27.11. – 30.11. 2019: Aspies e.V. beim DGPPN-Kongress 2019 in Berlin
27.11. – 30.11. 2019: Aspies e.V. beim DGPPN-Kongress 2019 in Berlin
Vom 27.11.- 30.11.12. 2019 fand in Berlin wieder der jährlicher große Kongress der Deutschen Gesellschaft für Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN) statt, der europaweit größte Kongress dieser Art. Auch in diesem Jahr war Aspies e.V. wieder dabei.
1. Unser Aspies e.V. – Infostand
Auch 2019 bekamen wir über das Aktionsbündnis Seelische Gesundheit, bei dem Aspies e.V. Mitglied ist, die Möglichkeit, uns mit einem Infostand beim DGPPN zu beteiligen. Im Vorfeld hatten wir bereits dafür gesorgt, dass wir „A‘s“, also „ADHS Deutschland e.V.“ und „Aspies e.V.“, wieder nebeneinander stehen konnten. So konnten wir uns ggf. gegenseitig unterstützen und uns vor allem einmal wieder persönlich miteinander austauschen. Hier entstand dann auch die Idee, im Jahr 2020 wieder eine gemeinsame Veranstaltung (zusammen mit der Deutschen Tourette Gesellschaft) zu organisieren.
Hier ergaben sich viele interessante Gespräche mit Fachkräften, die sich über Autismus und unsere Angebote informierten. Wir konnten wieder eine Reihe neuer Einverständnisse für die Eintragung in unsere Online-Fachkräfte-Datenbank erlangen.
Hier entstand auch der Kontakt zum Psychiatrie-Verlag (der S.Lipinskis Selbsthilfebuch gerade veröffentlicht) und die Idee, dass die geplante Tempel-Grandin-Biografie von einem Autisten übersetzt werden könnte.
Außerdem sprachen wir mit Autismus-Expert*innen, z.B. mit Prof. Vogeley über unsere Bedenken angesichts der „Negativ-Politik“ von Prof. Kamp-Becker gegenüber erwachsenen Autist*innen.
Weitere Kontakte am Infostand: In einem Gespräch stellte sich heraus, dass auch Menschen mit dem FASD (Fetale Alkoholspektrumsstörung) z.T. ähnliche Besonderheiten aufweisen wie autistische. Das war uns neu. Gute Gespräche gab es auch mit den Standbetreuer*innen anderer Selbsthilfe- und Selbstvertretungsorganisationen. Außerdem nutzen wir unseren Stand, um das Berliner Manifest für eine menschenwürdige Psychiatrie auszulegen. Der Vertreterin der Aktionsgruppe wurde von den Ordnungskräften verboten, dieses auf dem Kongress zu verteilen, obwohl sie dort selbst Referentin war. Aus diesem Grund legten es Aspies e.V. und andere Betroffenenorganisationen, die das Manifest unterzeichnet hatten, an ihren eigenen Infoständen aus.
2. Vorträge zum Thema Autismus
1. „Soziale Kommunikation durch emotionale Körpergerüche – wie werden sie erfolgreich erhoben und welche Rolle spielen sie bei Autismus-Spektrum-Störungen?“ (Janina Noll, Tübingen): Studien hätten gezeigt, dass Menschen in der Lage sind emotionale Informationen über Körpergerüche zu übermitteln. Da Ergebnis zeigte, dass autistische Menschen soziale Gerüche nicht intensiver wahrnehmen würden als nichtautistische.
2. „Autismusspektrumstörungen über die Lebensspanne“ (Inge Kamp-Becker, Marburg; Kai Vogeley, Köln): Das „State-of-the-Art“-Symposium ist ein Fortbildungs-Format, das Fachkräften, die bisher nur wenige Kenntnisse über Autismus haben, einen Überblick über die Grundlagen und den neuesten Stand der Wissenschaft bzgl. Diagnose und Therapie vermitteln soll.
„Autismus-Spektrum-Störungen im Kindes- und Jugendalter“ (Inge Kamp-Becker): Diesen Vortrag sahen wir sehr kritisch. Die Referentin vermittelte kaum Grundlagenwissen und beschränkte sich leider auch nicht auf die im Vortragstitel genannte Gruppe der Kinder und Jugendlichen. Stattdessen brachte sie immer wieder ihre Skepsis gegenüber Autismus-Diagnosen im Erwachsenenalter zum Ausdruck.
Für eine AS-Diagnose sei die Voraussetzung: „ Die Symptome verursachen, […] in klinisch bedeutsamer Weise LEIDEN oder Beeinträchtigungen“.
Dem können wir so nicht folgen: Autistische Menschen leiden hauptsächlich an den Bedingungen ihrer Umwelt bzw. an den Reaktionen anderer Menschen oder an Symptomen komorbider psychischer Erkrankungen, aber nicht an ihrem Autismus.
Die Referentin „vergaß“ bei der Vorstellung der neuen DSM V-Diagnosekriterien zu erwähnen, dass sensorische – und Wahrnehmungsbesonderheiten bei Autismus eine große Rolle spielen. Sie bestritt vehement, dass es so etwas wie „Reizfilterschwäche“ oder „Meltdowns“ bei autistischen Menschen überhaupt gebe („Was soll denn das sein?“ – Reaktion: Lachen im Publikum).
Autismus-Diagnostik im Erwachsenenalter: Es sei keine Argument, dass die Person das lange hätte kompensieren können und es deshalb erst später auffalle. Es sei bereits die fetale Gehirnentwicklung anders, wie solle dann Kompensation stattfinden können?
Dem widersprach der anwesende Aspies e.V.-Vertreter: „Ich bin nun schon älter und entwickelte im Laufe meines Lebens Kompensationsstrategien, sodass ich nach außen hin für andere jetzt weniger auffällig wirke“.
In diesem Sinne äußerte sich auch Prof. Vogeley: Ja, natürlich gebe es Kompensationsleistungen (z.B. Lächeln in sozialen Kontexten. Komplimente machen). „Camouflaging“ komme sogar häufig vor, besonders bei weiblichen autistischen Menschen.
Einen großen Teil ihres Vortrages widmete die Referentin der Darstellung von Autismus im Internet. Sie habe „gegoogelt“ und jeweils die ersten 50 Webseiten zum Thema „Asperger“ bzw. „Autismus“ einer Analyse unterzogen. Ihre Beobachtung: Autismus werde hauptsächlich in Verbindung mit Stärken dargestellt. Ihr Kommentar dazu: „Dem ist nicht so: Wenn man sich das Intelligenzniveau anguckt, muss man ganz klar sagen, die Mehrheit der Menschen mit ASS ist deutlich unter Niveau, nur eine kleine Minderheit hat eine überdurchschnittliche Intelligenz.“
Unsere Überlegung: Wenn für Prof. Kamp-Becker eine Autismusdiagnose von vorneherein nur für Personen in Frage kommt, die schwerst beeinträchtigt sind, kann sie natürlich nicht akzeptieren, dass autistische Menschen auch Stärken haben können. Wobei sie außer Acht lässt, dass bereits L. Kanner und H. Asperger in den Erstbeschreibungen von Autismus nicht allein Defizite im Blick hatten, sondern ebenso die besonderen Stärken ihrer kindlichen Patient*innen.
Autismus und Stigmatisierung: Die Referentin meinte, Autismus sei eine „Modediagnose“ und kaum mit Fremd- und Selbststigmatisierung verbunden. Deshalb würden Patient*innen teilweise darauf bestehen, die Diagnose zu bekommen, obwohl sie gar nicht autistisch seien.
Prof. Vogeley, der im Gegensatz zu Prof. Kamp-Becker, nicht mit Kindern, sondern mit Erwachsenen arbeitet, schilderte andere Beobachtungen: „[…] Personen, die ich kennenlerne und die autistisch sind, in aller Regel eigentlich nicht froh sind und nicht glücklich darüber, autistisch zu sein“
Fazit: Wir fanden den Vortrag von Prof. Kamp-Becker vor diesem Publikum äußerst problematisch. „State-of-the-Art“-Symposien sind Fortbildungsangebote des DGPPN, in denen Grundlagenwissen sowie Informationen über den aktuellen Stand der Wissenschaft bzgl. Diagnose und Therapie vermittelt werden sollen. Doch leider erfuhr das Publikum, das sich einen Kompetenzzuwachs beim Thema Autismus erhoffte, in der Hauptsache lediglich, wie man Autismus NICHT diagnostiziert. Wer wissen wolle, wie man das richtig mache, solle auf der ASDnet-Website in einem passwortgeschützten Bereich nachschauen.
Abschließende Warnungen am Ende ihres Vortrags wie diese: „Seien Sie vorsichtig mit Informieren aus dem Internet über Autismus und Asperger Syndrom“ oder „Ein ‚bißchen Autismus‘ gibt es nicht gibt esnicht! „Autistische Züge“ hingegen bei vielen Störungen, jedoch gehören Züge in den Bahnhof [...]“ passen wohl eher nicht für ein Fachpublikum, das sich zum Thema Autismus fortbilden möchte.
Allgemein provozierte die Referentin häufig Lachen im Publikum, hauptsächlich über Aussagen autistischer Erwachsener über ihre Bedürfnisse und Probleme. Das empfanden wir als diskriminierend.
Die Inhalte der Referentin waren in diesem Symposium zum großen Teil fehl am Platz und hätten eigentlich in die Formate „Pro-und Contra-Debatte“ oder „Diskussionsforum“ gehört, die es beim DGPPN-Kongress ebenfalls gibt.
Die negativen Auswirkungen des Vortrags von Prof. Kamp-Becker, bekamen wir auch prompt an unserem Info-Stand zu spüren: Danach kamen mehrere Fachkräfte zu uns und erklärten, dass z.B. Autismus bei Mädchen deutlich weniger diagnostiziert werden oder die Diagnose wirklich nur bei „schwerster Beeinträchtigung“ vergeben werden sollte. Wir hatten Mühe, die Aussagen von Prof. Frau-Kampf Becker wieder zu relativieren und ihre Aussagen in den richtigen Kontext zu setzen.
3. „“Münchener Autismus-Therapiegruppe für Erwachsene in der Ambulanz für Störungen der sozialen Interaktion am Max-Planck-Institut für Psychiatrie“ (Marie Bartholomäus, München): Vorgestellt wurden verhaltenstherapeutische 2 Gruppenprogrammen, MATE und STEP. Die autistischen Proband*innen schätzten bei beiden ein, sich im Gruppen-Setting wohlgefühlt zu haben. Auf eine Publikumsfrage hin wurde dafür eine Erklärung in Form eines Zitats eines autistischen Patienten gegeben: „Das ist der beste Ort, den ich kenne, hier sind alle so wie ich …“
4. „Das Oxytocin-System bei Erwachsenen mit Autismus: erste Ergebnisse der Oxytocin-Studie am Max-Planck-Institut für Psychiatrie“ (Laura Albantakis, München): Von der Referentin wurde mitgeteilt, dass, entgegen der Erwartungen, Oxytocin bei autistischen Menschen anscheinend keine Wirkung zeige.
5. 2-Tages-Workshop „Das Asperger-Syndrom und andere Autismus-Spektrum-Störungen im Erwachsenenalter“ unter der Leitung von Prof. Tebartz van Elst: Hier arbeitete auch wieder eine Autistin (Mitglied von Aspies e.V.) mit.
3. Sonstiges
1. Verleihung der Antistigma-Preise: Im Rahmen dieser Veranstaltung gab es den sehr interessanten Vortrag „Werden Menschen mit ADHS-Symptomen stigmatisiert? Ergebnisse eines repräsentativen Surveys in Deutschland“ (Sven Speerforck, Greifswald): Diese Studie erfasste u.a. auch unterschwellige Klischeevorstellungen und negative Vorurteile in der Bevölkerung. Es gebe davon immer noch mehr als man denke, obwohl ADHS als sogenannte „Modediagnose“, angeblich ein eher positives Image hätte. Eine ähnliche Studie sollte evtl. auch bzgl. Autismus durchgeführt werden, angesichts der Informationen, die Prof. Kamp Becker gerne in der Öffentlichkeit verbreitet. Sie vertritt die Meinung, dass Autismus als „Modediagnose“ überdiagnostiziert werde, weil autistische Menschen sowohl kaum Stigmatisierungen von außen erleiden würden und als auch der Grad an Selbststigmatisierung eher gering sei: Dieser Meinung würden wahrscheinlich fast alle Betroffen widersprechen, weil sie im Alltag das genaue Gegenteil erleben.
2. „Partizipative und kollaborative Forschungsansätze – Herausforderungen und Möglichkeiten“: In diesem Symposium wurden Studienergebnisse vorgestellt, die allein von Betroffenenallein oder in partizipativer Forschung erarbeitet wurden, ähnlich wie die in der AFK. Leider fand es zur ungünstigsten Uhrzeit am frühen Morgen und versteckt in einem der kleinsten Räume statt. Entsprechend gering war die Zahl der Zuhörer*innen, hauptsächlich Aktivist*innen aus Betroffenenorganisationen; leider kaum Fachkräfte aus Wissenschaft und Forschung, die hier viel über das Thema Partizipation hätten lernen können.
a) Studie zur Ermittlung der Betroffenenperspektive“ (Azize Kasber, Thomas Künneke, Berlin): Diese Studie wurde allein von Betroffenen durchgeführt. Die Ergebnisse sind nachzulesen in der Broschüre „Barrierefreies Arbeiten für Menschen mit psychischen Beeinträchtigungen“ (Hg. Kellerkinder e.V., siehe: https://landschaftstrialog.de/weblinks/)
b) „Begleitevaluation der ‚Bochumer Krisenzimmer‘ – ein partizipativ-kollaboratives Forschungsprojekt“ (Jasna Russo, Neuruppin): Hier wurde klar, wie sehr defizitorientorientierte Sprache die Teamarbeit und den Gesundungsprozess behindere.
c) „Ansätze und erste Ergebnisse der qualitativ-kollaborativen Teilstudie des Projekts PsychCare – Wirksamkeit von sektorenübergreifenden Versorgungsmodellen in der Psychiatrie“ (Sebastian von Peter, Neuruppin, Jenny Ziegenhagen, Berlin): In diesem Tandem-Vortrag ging es insbesondere um Vorteile, aber auch besondere Schwierigkeiten einer konsequent partizipativen Forschungsarbeit.
3. Es gab ein weiteres Symposium zum Thema Partizipation, „Psychiatriebetroffene in den Strukturen der Wissensproduktion: Widersprüche, Voraussetzungen, Potential“: Hier wurde deutlich, wie sehr das Gesundheitssystem von Peer-Beteiligung, Selbsthilfe und partizipativer Forschung profitieren könne. Man bedauerte, dass Partizipation und Kollaboration mit Betroffenen im klinischen und universitären Bereich kaum möglich sei, da die bestehenden Strukturen dies verhinderten. Schlechte Erfahrungen gab es z.B. in der Charité, wo oft nur „menschenleere Medizin“ stattfinde. Sebastian von Peter schilderte die Schwierigkeiten partizipativer Forschungsarbeit im universitären Kontext. Hier könnte die AFK, in der auch viele Mitglieder von Aspies e.V. mitarbeiten, viele gute praktische Tipps aus den jahrelangen Erfahrungen geben. Eine Vernetzung zwischen AFK und Sebastian von Peter ist geplant.