Das vergangene Jahrzehnt bezeugt von einer erhöhten Geschwindigkeit der Erforschung der Ursachen und des Wesens von Autismus. Die Autismusforschung näherte sich Autismus jedoch ausnahmslos aus einer pathologisierenden Sichtweise: Autismus wird als Krankheit, die geheilt werden muss, ausgemalt, und autistische Bürgerinnen und Bürger werden ausschließlich anhand ihrer Defizite und Beeinträchtigungen charakterisiert. Ein gegensätzliches und höchst erfolgreiches Modell für wissenschaftliche Untersuchungen soll als Parallele dienen:

“Vor zwanzig Jahren assoziierten die meisten Wissenschaftler ein hohes Alter mit Verfall und Behinderung… Heute ist das Konzept des Alterns ein anderes… Eine wichtige Rolle bei dieser Verschiebung im Denken kann auf das Jahr 1984 zurückgeführt werden, als die MacArthur Foundation eine Gruppe von Wissenschaftler aus sehr unterschiedlichen Feldern zusammenbrachte – Ärzte, Psychologen, Soziologen, Zellbiologen und andere, um eine intensive, zehn Jahre andauernde Untersuchung des Alterns einzurichten. Diese Gruppe, das MacArthurNetzwerk zum erfolgreichen Altern (MacArthur Network on Successful Aging) nahm eine einfachen, aber radikale Herangehensweise zu seiner Forschung. Anstatt sich auf die Probleme von Krankheit und Behinderung, die mit dem Altern assoziiert werden, zu konzentrieren, was die anerkannte Herangehensweise der gerontologischen Forschung zu dieser Zeit war, entschied sich das Netzwerk, Menschen zu untersuchen, die gut altern.” (2)

Wir glauben, dass die wissenschaftliche Erforschung von Autismus radikal neu orientiert werden muss, ebenso wie die Forscher im MacArthurNetzwerk die wissenschaftliche Erforschung des Alterns radikal neu orientiert haben. Statt Autismus weiterhin als eine Krankheit zu betrachten, denken wir, dass die Autismusforschung anfangen muss, Autismus in der selben Menschenrechtsperspektive zu konzeptualisieren, wie es homosexuelle Orientierung konzeptualisiert (die bis vor 30 Jahren noch eine schwere psychische Störung war, wie Autismus jetzt (2)). Statt weiterhin Untersuchungen zu unterstützen, die nur darauf abzielen, autistische Defizite zu ermitteln, denken wir, dass die Autismusforschung anfangen muss, Forschung zu unterstützen, die die einzigartigen Stärken autistischer Menschen ermittelt. Und statt die Unterschiede in der Biologie und im Verhalten zwischen autistischen und nichtautistischen Bürgern, denken wir, dass die Autismusforschung anfangen muss, die Vielfalt zu begrüßen, die autistische Bürger verkörpern. Wir mahnen die Autismusforschung, diesem Ziel in der zukünftigen AutismusForschung gerecht zu werden:

1. Autismus als Unterschied zu verstehen, der in untypischen Arten des Wahrnehmens, Denkens und Handelns resultiert;

2. die Stärken und Kompetenzen, die autistische Individuen besitzen, empirisch zu identifizieren; und

3. eine wissenschaftliche Antwort darauf zu bieten, wie autistische Individuen sich erfolgreich entwickeln und leben können als autistische Individuen. Es kann kaum einen Zweifel geben, dass eine solche ReKonzeptualisierung dazu führen wird, dass Autisten erfüllendere und respektiertere Leben führen und NichtAutisten und Autisten harmonischer miteinander leben. ~

(1) adaptiert von AutismHub NIH Petition NIH Response
(2) siehe Research Network on Successful Aging

Aspies e.V. versteht sich als Interessenvertretung autistischer Menschen und vertritt in Bezug auf Therapien die Haltung, dass diese die Lebensqualität von Autist/innen verbessern, ihr Selbstwertgefühl stärken und hohen ethischen Standards genügen müssen und natürlich autistischen Menschen in keiner Weise schaden dürfen. Aus diesem Grund haben wir in der Vergangenheit deutlich gegen die Festhaltetherapie und MMS Stellung bezogen und werden wir uns auch weiterhin in diesem Sinne engagieren. Therapien, die ausschließlich defizitorientiert sind und die autismusbedingten Stärken, die oft ebenfalls vorhanden sind, ignorieren, lehnen wir ab.

Es existieren mehrere Darstellungen autistischer Menschen, die glaubwürdig berichten, dass ihnen durch ABA-Therapeuten seelischer Schaden entstanden ist. Diesen Menschen erklären wir ausdrücklich unsere Solidarität und Unterstützung. Wir weisen darauf hin, dass gerade auch Autist/innen einen durch Grundgesetz und Behindertenrechtskonvention geschütztes Recht auf Menschenwürde, Selbstbestimmung und Respekt besitzen. Die Kritik an ABA stammt im Übrigen nicht nur von autistischen Menschen, sondern auch von Eltern und Fachkräften. Wir verweisen hier insbesondere auf den Regionalverband Mittelfranken von Autismus Deutschland, dessen Stellungnahme zu ABA (siehe unten) wir uns anschließen.

Soweit ABA-Anbieter

— autistische Menschen einer Intensivtherapie unterziehen, die dem therapierten Autisten kaum Gelegenheit zu einer selbstbestimmten Lebensgestaltung lässt.

— bei Angehörigen Schuldgefühle erzeugen, indem sie erklären, dass ABA die einzig sinnvolle Therapiemethode für das Kind sei und es dem Kind schade, wenn es nicht mit ABA therapiert werde,

— ihre Therapie so anlegen, dass auf den Willen des autistischen Menschen keine Rücksicht genommen wird und die von diesem Menschen zu erreichenden Ziele fremdbestimmt sind,

— mit direkter oder indirekter Bestrafung arbeiten, etwa, indem sie Autist/innen nur dann Zugang zu ihren Lieblingsgegenständen gewähren, wenn sie “Wohlverhalten” zeigen,

betrachten wir deren Vorgehen als ethisch in hohem Maße fragwürdig und als Verstoß gegen ein menschenwürdiges und respektvolles Verhalten gegenüber autistischen Menschen. Es gibt darüber hinaus auch nachweislich begründete Zweifel unter Fachkräften an der Wirksamkeit einer derart praktizierten ABA-Therapie.

Da der Begriff “ABA” vielfach mit dieser Intensivtherapie assoziiert wird, empfehlen wir Anbietern, die zwar den Begriff “ABA” verwenden, jedoch überwiegend mit anderen Ansätzen arbeiten, auf den Begriff “ABA” zu verzichten.

Wir werden weiterhin den Dialog mit allen Beteiligten suchen, schon im Sinne einer umfassenden Aufklärung. Grundvoraussetzung für einen solchen Dialog ist aber, dass wir Autist/innen als gleichberechtigte Partner anerkannt, unsere Würde respektiert und auf bevormundende oder fremdbestimmte Ansätze verzichtet wird.

Was ist Autismus?

Im Autismus gibt es einen wichtigen und häufig unterschätzten Aspekt, nämlich dass es zwei sehr unterschiedliche Sichtweisen gibt, eine von Innen und eine von Außen. Diese beiden Sichtweisen gibt es zu (fast) allem, aber beim Autismus klaffen sie besonders weit auseinander. Die Sichtweise von Außen hat das Verhalten autistischer Menschen im Blick; sie ist die Sichtweise der Diagnostik und der psychologischen Autismusforschung. Die von Innen ist die autistischer Menschen selbst und hat ihr Denken und ihr Wahrnehmung, genauer Wahrnehmungsverarbeitung im Blick. Temple Grandin, eine Autistin und Autismusforscherin, beschreibt in einem Gespräch mit Tito Mukhopadhyay, einem nicht sprechenden autistischen Menschen, diese beiden Perspektiven als „Verhaltens-Ich“ und „Wahrnehmungs-Ich“. Letzteres ist das von dem Menschen selbst wahrgenommene Ich, das denkt, reflektiert und wahrnimmt, während das Verhaltens-Ich das ist, was andere an ihm beobachten, sozial unangepasste Reaktionen, Routinen, Stimulationen und stereotype Bewegungen. Tito fühlt sich von seiner Umwelt verkannt, die sein Verhaltens-Ich für sein wirkliches Ich halten. Georg Feuser, ein sonderpädagogischer Autismusforscher, hat bereits zur letzten Jahrhundertwende darauf hingewiesen, dass die Verwechslung von beidem ein weitreichender und für autistische Menschen fataler Irrtum ist. Tatsächlich hat auch das an autistischen Menschen beobachtete Verhalten genuin nichts mit Autismus zu tun, sondern vielmehr mit den Anpassungsstrategien der Menschen. Auf der Grundlage autistischer Wahrnehmung und autistischen Denkens ist es von den sozialen Situationen geprägt, in denen autistische Menschen aufwachsen – und die von der Art und Weise geprägt sind, wie sie von ihrer Umwelt gesehen bzw. (miss-)verstanden werden.

Als Grundlage für die Diagnose gelten die Kriterien nach DSM 5 bzw. ICD 11 (siehe die Links unten). Sie haben nur das Verhalten im Blick und nennen Defizite in der sozialen Kommunikation, restriktive oder repetitive Verhaltensweisen bzw. eingeschränkte Interessen als zentrale Aspekte. Darin ist auch festgelegt, dass Autismus seit der frühen Kindheit bestehen muss und auch keine intellektuelle Behinderung oder globale Entwicklungsstörung vorliegt. Das Autistic Selfadvocacy Network (ASAN) charakterisiert Autismus als eine andere Weise zu denken, eine andere Wahrnehmungsverarbeitung, andere Bewegungsmuster, eine andere Art zu kommunizieren bzw. soziale Kontakte zu pflegen (siehe den Link unten). Diese Sichtweise orientiert sich mehr an dem Erleben autistischer Menschen. Für autistische Menschen ist es oft nicht einfach, das eigene Erleben und die Sicht von Außen miteinander in Einklang zu bringen. Dabei ist eine (weitgehende) Übereinstimmung zwischen dem eigenen Erleben und der sozialen Außenwirkung für die Entwicklung von Menschen zentral. Daher fordern autistische Communities, dass die Sichtweise und das Erleben autistischer Menschen nicht nur anerkannt wird, sondern die Grundlage für jegliches Autismusverständnis bildet.

Auch in der Autismusforschung stellen die verschiedenen und teilweise widersprüchlichen Aspekte des Autismus eine Herausforderung dar. In dem Versuch, eine einheitliche Erklärung zu finden, hat sich mit der Neuropsychologie ein eigenständiger Wissenschaftszweig gebildet, der von Forscher*innen wie Uta Frith, Simon Baron-Cohen und Francesca Happé entwickelt und auch populär gemacht wurde. Zentrale Begriffe sind hier die „Theory of Mind“, d.h. die Fähigkeit, geistige Zustände anderer intuitiv zu erfassen (beispielsweise, dass jemand lügt), zu „Zentrale Kohärenz“, d.h. die (automatische) Neigung, Wahrgenommenes in Form von Konzepten zu erfassen (beispielsweise eine Ansammlung von Pflanzen als „Garten“ wahrzunehmen) und die „Exekutiven Funktionen“, d.h. die Fähigkeit, das eigene Verhalten zu steuern. Die neuropsychologischen Befunde zeigen, dass autistische Menschen eine weniger ausgeprägte intuitive „Theory of Mind“ haben, ihr Denken eine schwache zentrale Kohärenz aufweist und sie oft Schwächen in der Verhaltenssteuerung zeigen. Letzteres ist allerdings in der Forschung umstritten, da die „Exekutiven Funktionen“ eher eine Sammelkategorie unterschiedlicher neuropsychologischer Funktionen zu sein scheinen. Alle drei kognitiven Funktionsbereiche sind nicht starr, sondern können durch Erfahrungen und Beobachtung erlernt werden. Gerade hochfunktionale autistische Menschen lernen dies zunehmend in ihrem Leben und entwickeln eigene Formen der Theory of Mind, zentral kohärenten Denkens und der Verhaltenssteuerung, die oft nicht weniger leistungsfähig sind als die von nicht-autistischen Menschen. Daher wird auch in der Autismusforschung zunehmend davon ausgegangen, dass autistisches Denken und Wahrnehmen nicht nur mit Schwächen, sondern auch mit Stärken einhergeht. Ein ungewöhnliches Stärken-Schwächen-Profil ist für Autismus charakteristisch. So geht eine weniger intuitive Theory of Mind nicht selten mit einer ausgeprägteren „Theory of Function“, d.h. einem intuitiven Erfassen funktionaler Zusammenhänge, einher. Bekannt ist auch, dass eine schwache Zentrale Kohärenz mit einem „schärferen“ Blick für Details zusammenhängt. Der Bereich der Exekutiven Funktionen ist hierbei schwer zu fassen, da er aus unterschiedlichen kognitiven Funktionen besteht; es ist auch in der neuropsychologischen Forschung umstritten, ob er überhaupt für Autismus eine wichtige Rolle spielt.

Bis heute ist bekannt, dass Autismus eine sehr starke erbliche Komponente hat. Bereits Leo Kanner und Hans Asperger ist aufgefallen, dass die Eltern autistischer Kinder häufig auch autistische Wesenszüge zeigen. Es ist auch bekannt, dass sich die Entwicklung und die Struktur autistischer Gehirne von denen nicht-autistischer Menschen unterscheiden. Dabei sind die Unterschiede wie auch die konkreten erblichen Komponenten sehr weit gestreut. Dementsprechend ist auch das Spektrum autistischer Menschen sehr breit. Neurobiologische Befunde deuten darauf hin, dass bestimmte funktionale Bereiche des Gehirns bei autistischen Menschen weniger stark miteinander vernetzt sind, dafür aber intern eine dichtere Vernetzung aufweisen. Das betrifft insbesondere Bereiche der Sprach- und der visuellen Wahrnehmungsverarbeitung, aber wahrscheinlich auch andere. Daher ist eine mehr oder weniger stark ausgeprägte Trennung von sprach- und wahrnehmungsbasiertem Denken für autistische Menschen typisch. Wie diese Trennung aber genau ausgeprägt ist, kann stark variieren, wie – vermutlich – auch die konkreten Ausprägungen der Vernetzung der beteiligten Bereiche im Gehirn. Hier wird von autistischen Denkstilen gesprochen, die alle für autistische Menschen spezifisch sind, aber sich untereinander stark unterscheiden können. Diese neurobiologischen Befunde, die unter dem Begriff „Funktionale Konnektivität“ gefasst werden, weisen auch darauf hin, dass die Entwicklung der Gehirne in der Kindheit und Jugendzeit bei autistischen Menschen anders verläuft als sonst. Dies ist allerdings bis heute nur wenig verstanden, obwohl es weitreichende Konsequenzen für die Unterstützung autistischer Heranwachsender hätte.

Links:

DSM-5 Autismus: https://depts.washington.edu/dbpeds/Screening%20Tools/DSM-5%28ASD.Guidelines%29Feb2013.pdf

ICD-11 Autismus: https://icd.who.int/browse11/l-m/en#/http%3a%2f%2fid.who.int%2ficd%2fentity%2f437815624

ASAN Autismus: https://autisticadvocacy.org/about-asan/about-autism/

Temple Grandin über Autismus: https://www.templegrandin.com/