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Aspies e.V. am 10.10.2018 in Eberswalde auf dem Fachtag „Genie und Störung“

Aspies e.V. am 10.10.2018 in Eberswalde auf dem Fachtag „Genie und Störung“

Am 10.10.2018 fand im Martin Gropius Krankenhaus GmbH in Eberswalde der Autismus-Fachtag „Genie und Störung“ statt. Ein Vertreter von Aspies e.V. war dabei. Hier der Bericht:

Nach der Begrüßung durch eine Vertreterin der Unternehmensgruppe Gesellschaft für Leben und Gesundheit und den Chefarzt der Klinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik des Kinder- und Jugendalters, Prof. Dr. Hubertus Adam, gab es bis zur Mittagspause drei hochinteressante Vorträge.

1.) Zuerst sprach Frau Prof. Dr. Inge Kamp-Becker, Leitende Psychologin in der Klinik für Kinder-und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie der Universität Marburg und Leiterin der Spezialambulanz für Autismus-Spektrum-Störungen, zum Thema „Autismus-Spektrum-Störung – ein Update!“. Damit wollte sie direkt Bezug nehmen auf die vom Veranstalter aufgeworfene Frage, ob „Autismus als eine Störung oder im neurobiologischen Sinne als eine menschliche Disposition unter vielen zu begreifen ist“.

Frau Prof. Dr. Kamp-Becker kritisierte die ihrer Meinung nach ungerechtfertigt hohe Zahl an gestellten Autismus-Diagnosen sowie die übermäßige Präsenz autistischer Charaktere in den Medien und das medial vermittelte Bild von Autismus, das mit der Realität nichts zu tun habe.

Es folgte eine Gegenüberstellung Neurodiversität vs. Störungsbegriff, die eindeutig zugunsten des Störungsbegriffs ausfiel. Neurodiversität sei „Bullshit“, propagiert von der Community der „vermeintlich“ Betroffenen – Personen, die im Erwachsenenalter auf einmal meinten, sie seien autistisch.

In einem Exkurs zum aktuellen Stand der Gehirnforschung (Stichwort „Konnektivitätsstörung“) streifte Frau Prof. Dr. Kamp-Becker auch das Thema „Wahrnehmung“: Präzise Wahrnehmung führe zu einem „konkretistischen Verständnis“. Deshalb würden autistische Menschen bestimmte „Abstraktionsstufen“ überhaupt nicht erreichen, was eindeutig als Defizit oder „abnormale“ Auffälligkeit zu werten sei. Sensorische Besonderheiten und Reizfilterschwäche hielt sie nicht für autismusbedingt, sondern eher für Symptome von ADHS oder anderen Störungsbildern.

Die Fokussierung auf autistische Stärken sei ebenfalls „Bullshit“ und wiederum ein Ansinnen der Community der „vermeintlich“ Betroffenen. Beispiel „Loyalität“: Eine solche Stärke könne es nicht geben, wo doch bei Autisten eine „hohe Rate von aggressivem Verhalten“ festzustellen sei. In diesem Zusammenhang fiel auch der Satz:„Da hat Neurodiversity wirklich verschissen, tut mir leid.“Verhaltenstherapie sei notwendig, um größtmögliche Selbständigkeit und Autonomie zu erreichen und es sei eine Schande, dass Aktion Mensch derartige Therapien nicht mehr fördere.

Frau Prof. Dr. Kamp-Beckers interessanter, aber in Teilen auch sehr polemisch wirkender Vortrag endete mit dem eindringlichen Appell: Ziel müsse es sein, die Lebensqualität zu verbessern – für alle Beteiligten, insbesondere für die Familien, die „leiden“.

Doch der Vertreter von Aspies e.V. fühlte sich geradezu erdrückt von der rhetorischen Schärfe und den vielen Fragen, die er der Referentin gern gestellt hätte. In der anschließenden Diskussion meldete er sich zu Wort, leider blieben nur wenige Minuten bis zum nächsten Vortrag. Er äußerte seinen Unmut über die Art der Polemik und dass er sich mehr Ausgewogenheit bei diesem Vortrag gewünscht hätte. Leider äußerte sich niemand sonst kritisch.

2.) Weiter ging es mit Frau Dr. Christine Preißmann zum Thema „Schwierige Lebenssituationen, Krisen und Interventionen“: Sie sprach über verschiedene Aspekte ihrer eigenen Lebensgeschichte, darunter das wörtliche Verstehen von Sprache, Mobbing während der Schulzeit, Umgang mit Veränderungen sowie Besonderheiten beim Lernen. Interessant war, dass Lernen bei  Frau Dr. Preißmann eher regelorientiert abgelaufen zu sein scheint und nicht „kreativ“ (was im allgemeinen Sinne darunter verstanden wird). Das kann aber wohl nicht für alle autistischen Menschen verallgemeinert werden. Frau Dr. Preißmann ging auch auf das Thema „Hilfe und Unterstützung“ ein. Neben autismusspezifischen Therapien, Psychoeducation und alltagspraktischen sozialen Komptetenztrainings würdigte sie hier ausdrücklich die Rolle der Selbsthilfe und Peer-to-Peer-Aktivitäten.

3.) Den dritten und letzten Vortrag hielt Prof. Dr. Georg Theunissen, Inhaber des Lehrstuhls Geistigbehindertenpädagogik und Pädagogik bei Autismus an der Universität Halle-Wittenberg. Er sprach zum Thema „Autismus im Lichte von Empowerment“ und bezog sich dabei vorwiegend auf sein 2016 erschienenes Buch „Autismus verstehen. Außen- und Innensichten.

Ein Schwerpunkt des Vortrags von Herrn Prof. Dr. Theunissen lag auf den konzeptionell aufbereiteten 7 typischen Merkmalen für das Autismusspektrum, nämlich:

a) Unterschiedliche (hyper- oder hypo) sensorische Erfahrungen; b) Unübliches Lern- und Problemlösungsverhalten; c) Fokussiertes Denken und ausgeprägte Interessen in speziellen Bereichen; d) Atypische, manchmal repetitive Bewegungsmuster; e) Bedürfnis nach Beständigkeit, Ruhe und Ordnung; f) Schwierigkeiten, Sprache zu verstehen und sich sprachlich auszudrücken, so wie es üblicherweise erwartet wird; g) Schwierigkeiten, typische soziale Interaktionen zu verstehen und mit anderen Personen zu interagieren.

Als mögliches weiteres, ergänzendes Merkmal nannte Herr Prof. Dr. Theunissen emotionale Besonderheiten. Er betonte mehrfach die zentrale Rolle der Wahrnehmungsbesonderheiten (im Gegensatz zu Frau Prof. Dr. Kamp-Becker, die solche Besonderheiten bei Autismus nicht für charakteristisch hält, siehe oben.)

Der Vortrag fokussierte außerdem auf autistische Fähigkeiten als Ausdruck einer „autistischen Intelligenz“, die ebenfalls in dem oben erwähnten Buch herausgestellt werden.

Und nicht zuletzt: In der Frage „Medizinische Behandlung oder Unterstützung?“ plädierte Prof. Dr. Theunissen eindeutig für „empowerment“.

In der Mittagspause hatte der Vertreter von Aspies e.V. ganz unerwartet Gelegenheit zu einem kurzen Gespräch mit Herrn Prof. Dr. Theunissen. Er wirkte eher bodenständig, ganz ohne intellektuelle Allüren. Schade, dass er beim Vortrag von Frau Prof. Kamp-Becker noch nicht anwesend war und nicht mitdiskutieren konnte.

4.) Am Nachmittag nahm der Vertreter von Aspies e.V. an einem der Workshops teil. Das Thema lautete „Genie und Störung – Ein dialogischer Workshop“. Der Ablauf war eher unspektakulär: Diskussion erst in Gruppen und dann im Plenum. Der Teilnehmerkreis bestand hauptsächlich aus medizinischem und sonderpädagogischem Personal. Der Vertreter von Aspies e.V. war vermutlich der einzige autistische Teilnehmer. Fragen an ihn hatte niemand. Obwohl wir im Vorfeld mehrfach angeboten hatten, für Gespräche zur Verfügung zu stehen (es war ja ein „dialogischer“ Workshop angekündigt).

5.) Zum Abschluss gab es noch eine Buchlesung mit autistischen Autoren: „Willkommen in Loncondia“ von Jannis B. Ihrig und „Blickwinkel“ von Richard Titze. Ersteres ging in Richtung Science Fiction, letzteres waren Prosa und Gedichte.