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Offener Brief zu einem Autismus-Artikel der Lancet-Kommission

Die medizinische Fachzeitschrift Lancet hat eine Kommission eingerichtet, die sich mit der Zukunft der Versorgung und der klinischen Forschung im Bereich Autismus befasst und einen entsprechenden Artikel verfasst. Da dessen Inhalt dem europäischen Dachverband der Autisten-Organisationen EUCAP, dem auch Aspies e.V. angehört, in einer Reihe von Punkten als unzureichend erscheint, wurde dazu ein offener Brief verfasst, dem sich auch der Vorstand von Aspies e.V. anschließt. Zum Wortlaut dieses offenen Briefs in englischer und deutscher Sprache, hier:

Open letter to the Lancet Commission on the future of care and clinical research in autism

14th February 2022

We wish to address the Lancet Commission on the future of care and clinical research in autism on behalf of the Global Autistic Task Force on Autism Research, a committee comprising autistic advocates, researchers and representatives of organisations by and for autistic people.

As the Commission emphasised the importance of collaborative participation, we look forward to being included as collaborators. We appear to have remained largely invisible, generalised briefly as ‘the neurodiversity movement’.

It is encouraging that the need for system change and the value of neurodiversity were recognised by the Commission. However, some omissions contradict this message. Studies mapping autistic people’s priorities regarding research were not mentioned. Participatory research was mentioned but not defined, nor was literature on its principles cited.

We find the proposal to adopt the term ‘profound autism’ highly problematic, as well as the overall emphasis on behavioural interventions, excluding more recent, promising approaches. We disagree with the recommendation to focus clinical research on randomised controlled trials for short-term interventions, including medication and behavioural trials.

To improve autistic lives, we need concepts developed by autistic scholars applied to clinical research. We need research on causes of mortality, access to health care, and improving mental health support. We need research on screening and diagnosis for all countries, and the health consequences of system factors: discrimination, mistreatment, poverty and lack of access to appropriate services. We need closer involvement of autistic people to ensure that clinical trials are truly ethical, and to curb the development of pseudo-treatments.

We call for shared, accessible platforms to continue the discourse and start building collaboration.

Offener Brief an die Lancet-Kommission zur Zukunft der Versorgung und der klinischen Forschung bei Autismus

14. Februar 2022

Wir wenden uns an die Lancet-Kommission zur Zukunft der Versorgung und der klinischen Forschung bei Autismus im Namen der Weltweiten Autistischen Task Force zur Autismusforschung (Global Autistic Task Force on Autism Research), einem Komitee, bestehend aus autistischen Selbsthilfevertretern, Forschern und Vertreter*innen von Organisationen von und für autistische Menschen.

Da die Kommission die Bedeutung der kollaborativen Partizipation betont hat, sehen wir einer Einbeziehung als Mitwirkende entgegen. In dem Text der Lancet-Kommission tauchen wir kaum auf und es wird dort nur sehr allgemein von der „Neurodiversitäts-Bewegung“ gesprochen.

Es ist ermutigend, dass die Kommission die Notwendigkeit einer Systemveränderung und den Wert der Neurodiversität anerkennt. Allerdings stehen einige Auslassungen zu dieser Botschaft in Widerspruch. Es werden keine Studien erwähnt, die sich mit den Prioritäten befassen, die autistische Menschen in der Forschung erwarten. Es wird zwar von partizipativer Forschung gesprochen, diese wird jedoch nicht näher definiert und es wird auch keine Fachliteratur zu den Prinzipien einer solchen Forschung zitiert.

Uns erscheint der Vorschlag zur Einführung des Begriffs „tiefgreifender Autismus“ in hohem Maße problematisch, ebenso die generelle Betonung von behaviouristischen Interventionen unter Ausschluss neuerer, viel versprechender Ansätze. Wir stimmen auch nicht überein mit der Empfehlung, sich auf die klinische Forschung und den Einsatz randomisierter Kontrollstudien in Bezug auf Kurzzeitinterventionen zu konzentrieren, einschließlich Studien zu Medikation und Verhaltenstherapien.

Um das Leben autistischer Menschen zu verbessern benötigen wir Konzepte, die von autistischen Forschenden entwickelt und auf die klinische Forschung angewendet werden. Wir benötigen Forschung zu den Ursachen erhöhter Sterblichkeit, Zugang zum Gesundheitssystem und der Verbesserung der Unterstützung im Bereich der geistigen Gesundheit. Wir benötigen Forschung zum Screening und zur Diagnose in allen Ländern und zu den Auswirkungen von systemischen Faktoren auf die Gesundheit: Diskriminierung, Fehlbehandlung, Armut und fehlender Zugang zu geeigneten Leistungen. Wir benötigen eine engere Beteiligung autistischer Menschen, um sicherzustellen, dass klinische Studien ethischen Standards gerecht werden und um der Entwicklung von Pseudo-Behandlungen einen Riegel vorzuschieben.

Wir fordern barrierefreie Plattformen mit Beteiligung der Betroffenen, um den Dialog mit ihnen fortzuführen und um deren Mitwirkung zu ermöglichen.