Ich wüsste gern, ob es anderen auch so geht, dass sie sich nur schlecht ein Gesamtbild von anderen, sogar nahestehenden, Personen machen können.
Bei mir ist es so, dass ich den Menschen meist so wahrnehme, wie er in der aktuellen Situation ist und dass ich in dieser Situation all die anderen Seiten, die ich an der Person schon wahrgenommen habe, nicht zu einem Ganzen zusammenfügen kann. Daraus resultiert, dass ich immer wieder überrascht (positiv oder negativ) bin, wenn jemand mal eine Seite zeigt, die nicht so oft zum Vorschein kommt.
Ich kann dadurch andere Menschen nur sehr schlecht einschätzen. Ich hab zwar manchmal eine Art Grundgefühl für den Charakter eines Menschen, aber sobald in einer Situation eine bestimmte Seite auftaucht, ist diese für mich in dem Moment präsent und ich habe nicht vor Augen, dass die Person ja auch ganz andere Seiten hat. Beispiel: eine Kollegin, der gegenüber ich eher misstrauisch bin, weil ich sie für "verstellt freundlich" halte und für missgünstig - ergibt sich einmal eine Situation, wo sie ganz offen und freundlich mit mir redet, dann habe ich in dieser Situation nicht im Hinterkopf, dass sie im Gesamten einen anderen Charakter zeigt. Ich bin also auch nicht so vorsichtig und erzähle ihr dann vielleicht etwas, was ich ihr nicht erzählen sollte.
Es gibt durchaus Menschen, bei denen habe ich ein ziemlich klares Gefühl für ihren Charakter. Da kann ich sagen: das ist eine freundliche Person. Ich glaube, ich erkenne eher einen guten Charakter. Wenn ich für mich festgestellt habe, dass eine Person sehr auf eigenen Vorteil und Anerkennung aus ist, dann habe ich mir das eher durch Nachdenken erschlossen oder weil andere es mir gesagt haben. Das Handeln solcher Personen ist für mich unergründlich, deshalb muss ich Verhalten analysieren oder den Aussagen anderer vertrauen.
Ist so eine Person wie die letztgenannte nämlich freundlich zu mir, dann habe ich in dem Moment überhaupt keinen Argwohn, ich glaube dann, dass die Person so ist. Verhält die Person sich am nächsten Tag dann ganz anders, kann ich das nicht begreifen. Dabei müsste ich doch wissen, dass jeder Mensch viele Facetten hat.
Ich scheine nicht in der Lage zu sein, die vielen Facetten eines Charakters zu einem Ganzen zusammen fügen zu können.
Ein großes Problem ist auch, dass ich dadurch große Verlustangst habe, schon seit der Kindheit. Ist eine mir nahestehende Person wütend auf mich, dann habe ich Angst, dass ich sie verlieren könnte. Ich müsste eigentlich wissen, dass die aktuelle Situation nur ein dunkler Fleck auf einer großen reinen Fläche ist, aber ich hab dann in dem Moment dazu, wie sich die Person die meiste Zeit mir gegenüber verhält und wie sie zu mir steht, keinen Zugriff. Ich kriege es nicht hin, zu sagen: die Person mag mich sehr gern und ist meistens freundlich zu mir, aber im Moment ist sie wütend auf mich. Das wird auch wieder vergehen und ändert nichts daran, dass die Person mich mag.