Frage an alle VA: Wie geht ihr mit der Ungewissheit um?

  • Hallo zusammen,

    ich hatte seit ich denken kann das Gefühl, auf dieser Welt hier irgendwie falsch zu sein. Zuerst dachte ich, es lag daran, dass ich immer schon lieber ein Junge gewesen wäre als ein Mädchen. Dann dachte ich, es hätte was damit zu tun, dass ich irgendwie schlauer war als die Leute in meiner Klasse und dass es nach dem Abi besser werden würde. Aber das wurde es nicht. Kein bisschen. Irgendwann war dann mal meine kleine Schwester mit mir in der Stadt und meinte: "Sag mal, bist du Autist?" Ich hab erst gedacht, dass das so ein typischer dummer Spruch von kleinen Geschwistern ist und eine Beleidigung sein sollte. Aber dann sind mir immer mehr Situationen aufgefallen, in denen ich ganz anders funktioniere als andere. Und auch Situationen aus meiner Vergangenheit sahen plötzlich anders aus.

    2016 hab ich dann meine erste Therapie angefangen und so ziemlich das erste, was die Therapeutin fragte, war: "Hat mit dir schon mal jemand über Autismus geredet?" Sie wollte mich dann eigentlich gerne zur Diagnostik zum Spezialisten schicken, aber ich wollte nicht (irgendwie war mir das peinlich) und dann waren auch die Suizidgedanken deutlich heftiger als meine sozialen Schwierigkeiten... Wir haben das ganze also schleifen lassen. 2017 wurde das dann irgendwie immer deutlicher und meine Therapeutin wieder "Du solltest zum Spezialisten gehen." Und ich so "Will ich nicht." Weil ich nicht wollte, dass irgendwer das merkt. Weil ich dachte, dass ich mich schon irgendwie durchgekämpft kriege. Weil meine Eltern und Lehrer ja auch immer gesagt haben: "Mach nicht so ein Theater, pass dich einfach mal bisschen an."

    2018 hat meine Therapeutin mich dann mit der Verdachtsdiagnose Asperger zur Psychiatrischen Ambulanz hier überwiesen, bei der ich noch immer in Behandlung bin. Mit der bitte, dass die das abklären. Aber die Psychologin da meinte lediglich "Sie sind doch einfach nur depressiv." Und damit war das Thema für sie erledigt. Und ich hatte nicht den Mut, ihr zu widersprechen. Bzw. hab es dann später getan und es hat trotzdem nichts genützt.

    Ich persönlich bin mir mittlerweile ziemlich sicher, dass an der Verdachtsdiagnose was dran ist. Weil es einfach so vieles erklären würde. Und weil ich jedes Mal, wenn ich Bücher über AS lese denke: "Woher kennen die mich?" Die Frage ist halt auch, wenn es nicht AS ist, was ist es dann?

    Bin jetzt auf der suche nach einem offiziellen Diagnosetermin, auch für Nachteilsausgleich an der Hochschule. In meinem Umfeld (vor allem meine Familie) stößt der Verdacht schon auf große Zustimmung. Gleichzeitig gibt es aber auch einige Leute die sagen: "Du bist doch kein Autist, dafür bist du doch viel zu normal."
    Und ja, ich glaube schon, dass ich mir viel von meiner Schwester abgeschaut habe, die früher auch systematisch mit mir geübt hat, wie man 'normal' ist. Sie hat mir die Welt erklärt nach dem Motto "Normale Menschen würden jetzt lachen, weil..." Sie hat mir gesagt, was angesagt ist, was cool ist, wie ich mich in der Öffentlichkeit verhalten soll. Natürlich hab ich das nicht wirklich kapiert und sie nachzuahmen hat auch nur bedingt geklappt, aber ich glaube schon, dass ich mir so ein normales Pokerface erarbeitet habe. Und dass ich manchmal schon so wirken kann, wie normale Leute, nur dass mich das halt extrem anstrengt... Eben wie ein Pinguin, der sich die Klippe runterstürzt und mit den Flügeln wackelt. Natürlich "fliegt" der auch paar Sekunden durch die Luft, aber das ist doch nicht das selbe.

    Jetzt ist der Text ziemlich lang geworden. Sorry. Alles was ich fragen wollte, ist: Wie geht ihr mit der Ungewissheit um? Wollt ihr eine Diagnose? Was kommuniziert ihr eurem Umfeld?


    Ich will eine Diagnose. Und ich bin jetzt auch aktiv auf der Suche. Aber ich habe gleichzeitig auch Angst davor. Und ich weiß nicht, wovor ich mehr Angst habe: Angst, dass da tatsächlich AS rauskommt und ich möglicherweise einen Lebensentwurf habe, den ich so gar nicht erreichen kann. Oder Angst, dass es doch nicht AS ist und ich dann noch immer keine Erklärung habe, für all die Probleme und Schwierigkeiten, die mich schon mein ganzes Leben begleiten.

    Wie ist das bei euch?

  • Ich kann deine Gedanken und Ängste absolut nachvollziehen. Aber du hast schon so einiges in deinem Leben durchgemacht. Mach es dir nicht noch schwerer und nimm die helfende Hand auch an! Es ist doch völlig egal, ob bei der Diagnostik ASS rauskommen würde oder nicht. Du kannst trotzdem selbst entscheiden, wie du in Zukunft weitermachen möchtest. Die Diagnose ist nur auf dem Papier da. Den Rest musst du alleine machen, oder eben lernen, Hilfe anzunehmen. Und dabei könnte eine ASS-Diagnose dann auch durch Schwerbehinderung, Gleichstellung oder einfach das Wissen, dass du dafür nichts kannst, ganz hilfreich sein. Also suche eine Stelle, die dich diagnostizieren kann und lass dich schon mal auf die Warteliste setzen. Alles andere kommt dann Schritt für Schritt.

  • Ich kann deine Gedanken und Bedenke bezüglich der Diagnostik gut verstehen. Mir ging es gerade erst ganz ähnlich.
    Ich habe mich dann dazu durchgerungen, die Diagnostik zu durchlaufen, da ich das Thema einfach nicht mehr aus dem Kopf bekam und Gewissheit brauchte. Seit Freitag bin ich nun offiziell AS diagnostiziert.

    Ich hatte auch Bedenken, dass ich nicht ernst genommen oder ausgelacht werde, weil ich mich zu normal benehme. Ich musste aufgrund schwieriger familiärer Verhältnisse sehr früh anfangen mich anzupassen, da meine Familie Unterstützung brauchte. Daher habe ich eine Diagnostikerin gesucht - und hier durch das Forum gefunden - die sich mit weiblichen und sehr gut kompensierenden Asperger-Autisten auskennt. Ihr fachliche Qualifikation sowie ihre Art im Mailkontakt haben mich dann überzeugt und ich habe es keinen Moment bereut.
    Ich habe eine lange Fahrstrecke und hohe Kosten auf mich genommen, aber ich wollte eben eine Diagnose - ob nun positiv oder negativ - auf die ich vertrauen kann. Ich wollte nicht im Nachhinein daran zweifeln und weiter suchen.

    Da in der Diagnostik auch einige andere psychische Erkrankungen ausgeschlossen werden, hat man bei einer guten Diagnostik im Nachhinein auch einen Anhaltspunkt, was es alternativ zum Autismus sein könnte. Das war ein weiterer Punkt, der mich zur Diagnostik bewogen hat. Ich hätte einen neuen Ansatzpunkt gehabt.

    Um noch deine Fragen zu beantworten:
    Wie geht ihr mit der Ungewissheit um? Wollt ihr eine Diagnose? Was kommuniziert ihr eurem Umfeld?

    - Ich bin ganz schlecht mit der Ungewissheit umgegangen und konnte auch keine neuen Kompensationsstrategien für mich annehmen. Ich habe mich wie ein Heuchler gefühlt und wollte Gewissheit.
    - Ich wollte keine Diagnose, sondern einen Befund. Ich hätte Luftsprünge gemacht, wäre dieser negativ ausgefallen. Mir wäre eine Diagnose lieber gewesen, die eine Heilung nicht ausschließt. Aber ich habe auch noch keine psychiatrische Vorgeschichte.
    - Meinem Umfeld gegenüber habe ich das nicht wirklich kommuniziert. Mein Freund wusste von meinem Verdacht und fand es stimmig. Er weiß jetzt auch von der Diagnose. Sonst weiß keine davon und das soll auch erstmal so bleiben.

  • Ich kann deine Sorgen auch nachvollziehen, obwohl mein Fall wohl etwas anders gelagert ist.
    Ich hatte meinen ersten Termin zur Diagnostik bereits und gehe zum jetzigen Zeitpunkt nicht davon aus, die Diagnose zu bekommen. Eine Differentialdiagnostik hat in der Form noch nicht stattgefunden, weswegen ich noch keine Ahnung habe, was ich in der Richtung erwarten kann.

    Ich finde das aber nicht mehr so schlimm.
    Ich habe mich auch beim Durchlesen von AS-Biografien erkannt, habe erklärende Modelle für Probleme kennengelernt, die ich mein Leben lang schon gehabt habe. Ich habe das Gefühl, jetzt viel mehr über mich verstanden zu haben. Es fühlt sich an, wie ein Schritt in die richtige Richtung.
    Unabhängig davon, ob ich nun eine Diagnose bekomme oder nicht, habe ich viel gelernt. Nicht nur über AS, sondern allgemein.

    Ich bin seit knapp einem halben Jahr mit einer Therapeutin in Kontakt, die mich nach den ersten Terminen für hochsensibel und hochbegabt (was ich nicht unbedingt glaube) gehalten hat. Nachdem ich ihr mehr über mich erzählt hatte, sagte sie, ich sei sehr analytisch und hätte Schwierigkeiten in emotionalen Situationen. Darüber hinaus würde ich wohl die Kriterien einer sozialen Phobie erfüllen und zu zwanghaftem Verhalten tendieren. So ging es dann weiter....

    Sie nannte mich (witzigerweise) auch mal einen Pinguin, der versucht zu fliegen wie andere Vögel, ohne zu erkennen, dass er eigentlich ins Wasser gehöre.

    Nun, ich wollte immer eine Erklärung für mein Wesen und meine Probleme haben. Mittlerweile ist mir das aber nicht mehr so wichtig.
    Theoretisch ist es möglich, dass ich im subklinischen Bereich bin, da meine Einschränkungen im Vergleich nicht so gravierend ausfallen. Dann würde ich ohnehin keine Diagnose bekommen und müsste so für mich einen Weg finden, mit meinen Problemen zurechtzukommen.
    Deshalb sehe ich dem Ergebnis mittlerweile gelassener entgegen.....

  • Hallo ihr Lieben und danke @MathePinguin für dein ehrliches Teilen.

    Während ich eure Beiträge las, wurde mir erstmals klar, dass mir genau dieser Austausch gefehlt hat. Ich schwanke ständig hin und her, lass das Thema plötzlich wieder Ruhen, fange dann doch wieder an, darüber zu lesen (insgesamt habe ich hier sechs Bücher über Autismus stehen und mich gefühlt quer durchs Internet gelesen). Auch in Bezug auf viele andere Diagnosen habe ich mir Wissen angeeignet, lauter Tests gemacht, meinen Partner Tests ausfüllen lassen, um zu vergleichen usw. Letztlich schafft all das trotzdem keine Klarheit und so komme ich nicht umhin, diese Angelegenheit einem/einer Spezialisten/Spezialistin "in die Hände zu legen"/es abzugeben.

    Ich war als kleines Mädchen so unauffällig, ruhig, verträumt, hab mich viel zurückgezogen, wollte aber auch so gerne dazu gehören, hab mich aber immer irgendwie "abseits" gefühlt. Unsicherheit war besonders in der Kindheit mein ständiger Begleiter.
    Meine Mutter kennt zwar meine Stimmings (zumindest eines, welches ich bis heute exzessiv betreibe), meine Überempfindlichkeiten, mein Interesse, welches ich ebenfalls exzessiv betrieb (heute habe ich noch ein weiteres Interesse) und bis heute ist es ihr ein Rätsel, wieso ich nach der Schule völlig verstummt bin und das Tag für Tag (vom ersten Tag an).. Auch hab ich mich als Kind selbst verletzt (mich wund gekratzt) und die Tapete von den Wänden gerissen.. Im Fragebogen (FSK) hat sie jedoch nichts davon angegeben. Als ich sie darauf ansprach, meinte sie nur, sie könne den Fragebogen auch nochmal richtig ausfüllen, aber sie findet, ich sei normal. Das ist ja auch irgendwie schön, dass sie das so sieht und obwohl ich mir gewünscht hätte, sie würde einfach wertfrei all das ankreuzen, was der Wahrheit entspricht, belasse ich es jetzt dabei. Ich denke, eine Person, die darauf spezialisiert ist, wird ein gescheites Urteil darüber bilden können, ob oder ob nicht. Gleichzeitig fühle ich mich heute wieder weniger berechtigt, überhaupt eine Diagnostik zu machen.
    Trotzdem werde ich es machen. Ich habe eine Verdachtsdiagnose und mein Partner unterstützt mich dabei, dran zu bleiben. Ich denke auch, so oder so werde ich ein Stück weiter sein als vorher - egal was dabei rauskommen wird.

    Nochmal danke. Schön, dass ich das hier lassen kann.

  • Als ich sie darauf ansprach, meinte sie nur, sie könne den Fragebogen auch nochmal richtig ausfüllen, aber sie findet, ich sei normal.

    Der Fragebogen für meine Mutter steht noch aus (habe mich bisher nicht getraut, ihn ihr vorzulegen). Sie weiß von der Diagnostik, ist aber nicht begeistert gewesen, weil sie mich auch für "normal" hält. Ich habe sie auch ein paar Dinge gefragt, aber sie selbst schien sich an vieles nicht mehr erinnern zu können. Ich mache mir da etwas Sorgen, dass die Diagnostiker einfach ein falsches Bild von mir bekommen.

    Wenn meine Mutter die Fragebögen aber absichtlich falsch ausfüllen würde, wäre ich schon unglücklich darüber.....
    mag aber auch daran liegen, dass ich schon seit Jahren unfreiwillig eine Art Maske trage und mittlerweile schon empfindlich darauf reagiere, wenn ich das Gefühl habe, jemand hat ein falsches Bild von mir. Bei meiner eigenen Mutter täte mir die Erkenntnis eben noch einmal mehr weh.......

  • @Tintenherz

    Es ist eine Frage der Betrachtungsweise, denke ich. Meine Mutter erklärt sich mein Verhalten (zb bei geselligen Anlässen auf der Stelle Hüpfen und Tierlaute machen oder mein manchmal merkwürdiger Gang, der einem Roboter gleicht) mit Unsicherheit - womit sie prinzipiell auch richtig liegt (ich war unsicher und aus heutiger Sicht überfordert). Da kann ihrer Meinung nach keine Entwicklungsstörung vorliegen, ich sei ja "nur" unsicher, deswegen hat sie die Fragen so nach ihrem besten Gewissen und Wissen beantwortet.

    Vielleicht hat sie ja auch recht. Dann rühren meine Defizite, die ich mir nicht einbilde, woanders her. Außerdem denke ich, kann es sein, dass es meiner Mutter unangenehm ist, wäre da etwas, was sie all die Jahre übersehen hat.

    Ich gebe zu, dass ich zunächst enttäuscht war, weil ich mir sehr gewünscht habe, dass sie mich so sieht wie ich es gerne hätte - aber so läuft das Leben nicht immer. Es läuft nicht immer so, wie ich es gerne hätte und vielleicht ist es auch manchmal gut so. Was weiß ich schon.

    Ich habe zb auch sehr viele Aufnahmen von mir (Video- und Fotoaufnahmen). Die kann ich ebenso in die Diagnostik miteinbeziehen. Alles weitere wird sich ergeben.

    Ansonsten muss ich sagen, geht es mir ähnlich wie dir. Ich hasse es, wenn mir jemand etwas unterstellt, mir etwas "überstülpt", was nicht Meines ist, ein Bild von mir hat, welches nicht meiner Wahrheit entspricht (die Betonung liegt auf "meiner"). Das passiert aber und darauf habe ich keinen oder nur bedingt Einfluss. Nun.. Vielleicht steckt auch hinter all dem, was andere von mir wahr-nehmen, ein Fünkchen Wahr-heit. Das ist es doch, was mich irritiert, weil ich tief in mir drinnen immer noch dieses unsichere Mädchen bin - auf der Suche nach einer Identität.

  • Ich habe nach einiger Überlegung entschieden, dass ich mich erst mal nicht diagnostizieren lasse.

    Erstens, weil ich schon viele Fehldiagnosen bekommen habe, was meine Psyche betrifft. Und AS ist ja gerade bei Frauen und im Erwachsenenalter sehr schwer zu diagnostizieren. Ich selbst bin nach der Lektüre dieses Forums überzeugt, dass ich mich irgendwo im autistischen Spektrum bewege, und zwar schon immer. Wenn mir jetzt ein Psychiater bescheinigen würde, dass ich kein AS habe, würde ich es ihm nicht glauben. Es wäre für mich nur eine weitere Fehldiagnose.

    Zweitens, weil ich das gleiche Problem habe wie viele hier: Iich möchte meiner Mutter keinen Fragebogen zum Thema AS vorlegen. Sie wäre der Meinung, ich wäre doch ganz normal bzw. "ach, das hast du von mir" (was durchaus sein kann :) ). Und sie würde den Fragebogen sicher nicht wahrheitsgemäß ausfüllen. Vieles hat sie auch gar nicht mitbekommen, z.B. dass ich mich als Kind selbst verletzt hatte. Dass ich im Grundschulalter mal den Plan hatte, alle Wörter, die mir so begegnen, aufzuschreiben, bis ich alle existierenden Wörter gesammelt habe, hatte ich nie jemanden erzählt. Und ich glaube auch nicht, dass sie sich noch an die ausführliche Liste aller Briefmarken in meiner Sammlung erinnert, die ich mal angelegt hatte. Und so weiter.

    Außerdem komme ich zur Zeit vergleichsweise gut zurecht, Schwerbehindertenausweis habe ich schon wegen einer körperlichen Behinderung. Ich gehe jetzt aber vorsichtiger mit mir um und merke, dass es mir gut tut. Und ich habe mehr Geduld mit meinen Schwächen.

    Würde ich allerdings noch mal eine Therapie brauchen, würde ich meinen AS-Verdacht vermutlich erwähnen.

    I have my books
    And my poetry to protect me

  • Danke für eure Antworten!

    Wenn mir jetzt ein Psychiater bescheinigen würde, dass ich kein AS habe, würde ich es ihm nicht glauben. Es wäre für mich nur eine weitere Fehldiagnose.

    Genau das habe ich gestern auch gedacht, als ich mir überlegt habe, wie ich reagieren würde, wenn die nach der Diagnostik zu mir sagen würden: "Sie sind nicht im Spektrum." Ich glaube, ich würde tatsächlich eher an der Kompetenz des Diagnostikers zweifeln als an meiner Lebenserfahrung...

    Das mit der Mutter kommt mir auch irgendwie bekannt vor. Ich habe jahrelang versucht, meiner Mutter Sorgen und Kummer zu ersparen und mir nichts anmerken zu lassen. Und dann bin ich im Sommer in der Psychiatrie gelandet und das war dann doch ein bisschen auffällig. Habe dann im Herbst zum ersten Mal mit ihr über die Verdachtsdiagnose gesprochen und sie meinte nur: "Den Verdacht hatte ich auch schon. Ich meine, ich hab ja schon in der Krabbelgruppe gemerkt, dass du anders bist als alle anderen Kinder und dass du irgendwie nicht klar kommst. Aber welche Mutter will schon ein behindertes Kind? Und dann hab ich halt so getan, als wärst du ganz normal."

    Jetzt unterstützt sie mich aber bei der Suche nach einer offiziellen Diagnose. Auch wenn ich denke, dass sie (anders als ich) hofft, dass es doch irgendeine Störung ist, die wieder weg therapiert werden kann. Aber vermutlich kamen meine Eltern dann irgendwann im Lauf der letzten Monate und vor allem durch den Psychiatrieaufenthalt zu der Erkenntnis, dass sie lieber ein komisches bzw. behindertes Kind hätten, als ein Kind, dass sich irgendwann dann doch umbringt, weil es mit der Welt einfach nicht klar kommt...

    Ich gehe jetzt aber vorsichtiger mit mir um und merke, dass es mir gut tut. Und ich habe mehr Geduld mit meinen Schwächen.

    Das klingt auf jeden Fall nach einem guten Plan!! :)

  • Ich gehe jetzt aber vorsichtiger mit mir um und merke, dass es mir gut tut. Und ich habe mehr Geduld mit meinen Schwächen.

    Das ist das Wichtigste, und mehr würde Dir die Diagnose erst mal auch nicht bringen. Ich habe mich zunächst genauso entschieden (aus anderen Gründen), es reichte mir, dass ich Bescheid wusste und meine Frau auch - der Verdacht war bei mir aufgekommen, weil unsere Tochter diagnostiziert worden war. Dass ich mittlerweile doch beim Psychiater war wegen einer Diagnose lag nur daran, dass ich einerseits Vollzet wohl nicht bis zur Rente durchhalte (wegen AS), andererseits Teilzeit ohne medizinischen Grund in meinem Fall aber nicht möglich ist. Wenn Du aus welchen Gründen auch immer den Bedarf später siehst, bleibt Dir das ja unbenommen, weshalb ich Deine Entscheidung sehr gut verstehe.

  • Genau das habe ich gestern auch gedacht, als ich mir überlegt habe, wie ich reagieren würde, wenn die nach der Diagnostik zu mir sagen würden: "Sie sind nicht im Spektrum." Ich glaube, ich würde tatsächlich eher an der Kompetenz des Diagnostikers zweifeln als an meiner Lebenserfahrung...

    Die Experten in den Spezialambulanzen haben ausreichend Erfahrung, um Menschen mit Autismus erkennen zu können. Die Sorge, dass ihr da verkannt werdet, ist zumeist unbegründet. Berichte (fast ausschließlich) im Internet darüber, dass die Fachleute keine Ahnung hätten sind häufig überzogen und mit "Schaum vor dem Mund" (RW) geschrieben, wenn jemand die Diagnose nicht bekommen hat, die er oder sie eigentlich wollte. Das Aspies-Forum würde ich im Übrigen auch nicht als (Selbst-)Diagnosehilfe empfehlen, hier schreiben Laien. Und eigene Lebenserfahrung hilft auch nicht dabei, psychiatrische Diagnosen zu stellen, dafür braucht es schon eine entsprechende Ausbildung.

    Vielleicht mag es einen "Autismus" geben, der so tief in einem drin verborgen ist, dass man nur selbst ihn zu erkennen vermag, er für die Außenwelt unsichtbar, letztlich undiagnostizierbar ist- das mag ich gar nicht vollends abstreiten. Aber das hat dann nicht mehr viel mit den klinisch bedeutsamen Einschränkungen bei Autismus-Spektrums-Diagnosen zu tun, welche von Experten vergeben werden.


    Zum Thema, wie mit dem Verdacht umzugehen ist: Einen unaufgeklärten Autismusverdacht muss man sich meiner Meinung nach "leisten können". Und zwar in dem Sinne, dass es einem im Leben soweit gut geht, dass man trotz der selbst erkannten Schwierigkeiten seine persönlichen Ziele erreicht, wenig bis gar keinen Leidensdruck verspürt. Dann ist es unschädlich, sich für ein bisschen "autistisch" zu halten und sich auch an den Tipps zu orientieren, die Menschen mit Autismus-Diagnose helfen. Man kann ja auch beispielhaft sich Elemente aus der buddhistischen Lehre als nutzbringend herausgreifen, ohne gleich Buddhist zu werden. Wenn es einem aber wirklich schlecht geht und man dies auf die autistischen Einflüsse zurückführt, ist eine Aufklärung geboten. Bei einer Positivdiagnose gibt es dann Gewissheit und Zugang zu Hilfen, bei einem Autismusausschluss ist wiederum der Kopf frei, sich den tatsächlichen Problemen zu stellen.

  • @Willowtree
    So sehe ich das auch.

    Wobei ich es schon nachvollziehen kann, wenn man sich von Ärzten missverstanden fühlt. Mir passiert das nämlich ständig, dass ich aus einer Praxis herausgehe und wieder mit meinen Problemen alleine dastehe, da keine Diagnose zustande kam. Das ist schon frustrierend, wenn das immer wieder passiert.

  • Eigentlich echt traurig, dass wir alle dieses “Mutter-Problem“ haben. Meine hat die letzte Diagnostik abgebrochen, weil sie ein normales Kind will und ich das alles absichtlich machen würde um mehr Aufmerksamkeit zu bekommen :(

    Falls ich es also irgendwann mal zur Diagnostik schaffe, dann bekommt aus meiner Familie niemand einen Fragebogen. Muss irgendwie ohne gehen.

    Bezüglich der Ungewissheit: das stört mich gar nicht so sehr. Ich denke zwar öfter darüber nach was alles falsch läuft, aber eine Diagnose würde ja an mir und dem wie ich bin gar nichts verändern. Also ist es mir letzentlich fast egal. Aber ich hätte es schon gerne irgendwo offiziell stehen :)

    Ich kann gut Mitmenschen umgehen

  • Eigentlich echt traurig, dass wir alle dieses “Mutter-Problem“ haben.

    Für mich das Trigger-Thema. Im nächsten Leben werde ich sagen, von meinen Eltern lebt niemand mehr.

    Ich war ja soooooo unauffällig, der beliebteste in der Klasse, ach was, von der Schule. Ich hatte niemals Probleme und vor allem mit ihrer Erziehung hat sie doch einen tollen Menschen hinbekommen.

    Ich rege mich gerade auf. Merkt man das?

    Jeder Sonnenuntergang ist so schön, wie man ihn betrachtet.
    Jeder Mensch so wertvoll, wie man ihn im Herzen trägt.

  • Komischerweise sagte man mir bei der Diagnostik, in der Regel seien es die Mütter, die eine Diagnostik machen lassen wollen, um eine Erklärung für die Probleme ihrer (erwachsenen) Kinder zu bekommen. Sehr merkwürdig.

  • Ich fühle mich mit der Nicht-Diagnose, also mit dem bloßen Gefühl, dass ich AS haben könnte sehr wohl. Je nach Situation sind meine Probleme auch mal mehr mal weniger, so dass ich wohl sowieso irgendwo im Grenzbereich zwischen AS und NT herumschwanke.
    Ohne Diagnose habe ich immer noch die Illusion Dinge meistern zu können, zu denen ich mich als diagnostizierter AS wohl unfähig fühlen würde.

  • Ich habe auch diese Mutter/Eltern, die meinen, dass ich doch normal bin und immer war. Vielleicht etwas komisch, aber das war es. Ich bin ja mal auf das Ergebnis des Interviews gespannt...

    Ansonsten ist die Diagnostik für mich extrem wichtig. Ich arbeite ja voll und ich möchte endlich wissen, warum es diese Probleme gibt. Ob es an mir liegt oder am Asperger. Also ob ich was tun kann oder nicht. Überspitzt gesagt. Und natürlich kann ich mit Diagnose besser Hilfe anfordern. Es gibt mir auch die Erlaubnis zu sagen, dass ich so sein darf.

  • "Die Experten in den Spezialambulanzen haben ausreichend Erfahrung, um Menschen mit Autismus erkennen zu können. Die Sorge, dass ihr da verkannt werdet, ist zumeist unbegründet."

    Ich bin halt misstrauisch geworden, weil die Spezialambulanz, die einigermaßen in der Nähe wäre, offenbar großen Wert auf Gespräche mit den Eltern legt. Schon auf der Website steht ein ausführlicher Hinweis, dass der Fragebogen für die Eltern und das anschließende Gespräch einen wesentlichen Teil der Diagnostik ausmachen.

    Wenn ich dann daran denke, dass meine Mutter alles tun wird, um ihre Tochter als "normal" hinzustellen, dass ich sehr vieles immer überspielt habe und meine Eltern überhaupt einen sehr introvertierten Lebensstil pflegen (also vieles "normal" ist, was es in anderen Familen nicht wäre), dann frage ich mich schon, welchen Sinn die Diagnose unter den Umständen hat.

    Dass ich Arzttermine und die vorausgehenden Telefonate hasse, kommt dann noch dazu :)

    Aber es geht mir auch vergleichsweise gut zur Zeit. Wenn es mir mal schlechter geht, werde ich die Sache angehen.

    Es ist natürlich was anderes, wenn man die Diagnose braucht, z.B. wegen Nachteilsausgleich im Studium.

    I have my books
    And my poetry to protect me

  • Während meiner Diagnostik wollte niemand mit meinen Eltern sprechen, die Grundschulzeugnisse waren ausreichend als Nachweis der Entwicklung in der Kindheit. (Uniklinik Köln)

    Una est catena quae nos alligatos tenet, amor vitae

Jetzt mitmachen!

Sie haben noch kein Benutzerkonto auf unserer Seite? Registrieren Sie sich kostenlos und nehmen Sie an unserer Community teil!