*Achtung, ziemlich langer Beitrag*
Hey liebes Forum,
ich müsste eigentlich Statistik lernen, aber seit heute morgen werde ich gewisse Gedanken einfach nicht los. Vielleicht hilft es ja, darüber zu schreiben.
Ich bin auf Twitter über den Hashtag #selfdxisvalid (Selbstdiagnosen sind gültig) gestolpert (rw) und habe Stellungnahmen dazu gelesen, was eine Kaskade von Denkprozessen ausgelöst hat. Meine Diagnostik-Situation bringt mich öfter zum Grübeln. Es so: ADS ist ganz sicher und von vier Ärzt*innen bestätigt - aber ich habe definitiv nicht nur ADS. Was dieses "andere" ist, haben Ex-Therapeutin, 3 Psychiater*innen und eine Psychologin herauszufinden versucht.
Die Therapeutin, die mich über fast zwei Jahre regelmäßig gesehen hat (allerdings noch in Ausbildung war) kam mit ihrem Supervisor zur Diagnose "Schizotypische Störung" (F21). Ich hätte einen exzentrischen Persönlichkeits- und Kleidungsststil, teilweise bizarre überwertige Ideen, eine unkonkret-sprunghafte und teils idiosynkratische Art zu sprechen (kann ich auch alles bestätigen), desweiteren sah sie meine Depersonalisation anscheinend als "unnormale Wahrnehmung" an (die Synästhesie vermutlich auch). Soziale Ängstlichkeit, die ich auch habe, steht auch in den Kriterien zur Schizotypie, desweiteren die Tendenz zu sozialem Rückzug, Sensibilität und affektive Probleme.
Ich war bei allem, was die Therapeutin so sagte, sehr skeptisch, weil ich mich meistens nicht verstanden gefühlt habe. Ich war aber auch ziemlich verzweifelt. Deswegen nahm ich ihren Vorschlag gleich an, es mit einem Atypischen Neuroleptikum (Amisulprid) zu versuchen. Und das hilft mir - in minimaler Dosierung - enorm! Die Depersonalisation und auch der soziale Rückzug sind seitdem geringer, außerdem scheint es mir, als würde ich mich tatsächlich "normaler" verhalten (ist aber relativ schwer festzustellen, finde ich - die Therapeutin jedenfalls sah eine deutliche Besserung). Nun ja, normal für meine Verhältnisse ist noch nicht normal im Sinne von NT-normal. Jedenfalls dachte ich: Ein Medikament gegen Schizotypie wirkt, also muss ich das haben. Aber das hieße ja, dass ich ständig bizarre Vorstellungen habe, die nicht ganz realitätskonform sind. Das hat dazu geführt, dass ich glaubte, meinen eigenen Gedanken nicht mehr trauen zu können und extrem unsicher wurde, was ich überhaupt denken soll.
Komisch ist nur, dass ich die Kernkriterien der Schizotypie eigentlich kaum erfülle. Ich habe keine Tendenz zu magischem Denken, im Gegenteil (hab mal einen Test dazu gemacht: 2 Punkte im Vergleich zum Mittelwert von 7), und das soll ja relativ typisch sein. Außerdem bin ich nicht misstrauisch oder paranoid, im Gegenteil, ich bin häufig extrem naiv und gutgläubig. Außerdem würden die wenigsten Schizotypen überhaupt Hilfe suchen und zum Therapeuten gehen. Mein Psychiater meinte dazu auch: Das kann nicht sein, das passt übrehaupt nicht.
Aber irgendwas ist ja da... Ich habe davor schon relativ viel zu Autismus recherchiert und mich in vielem wiedergefunden, in biographischen Texten etc. - es machte vieles einfach total Sinn. Die Therapeutin hat, als meinen Verdacht vorsichtig äußerte, allerdings gelacht, so absurd erschien ihr das.
Ich habe mich in der Charité auf Autismus testen lassen, bzw. wollte einfach nur wissen, was mit mir los ist. Das Ergebnis: ADS ja, eventuell Sozialphobie, aber kein Autismus. Das hat mich ziemlich zur Verzweiflung gebracht: Bildete ich mir alles nur ein? Die folgenden Monate bin ich tatsächlich ziemlich zusammengebrochen, bin aus meiner WG abgehauen, habe draußen geschlafen (Ende März) etc., hatte nicht das Gefühl, dass die Gesellschaft einen Platz für mich hat. Mit dem Medikament ist die Situation dann besser geworden, aber die Diagnosen-Unklarheit blieb, und, auch wenn manche das nicht nachvollziehen können, die richtige Diagnose zu haben IST enorm wichtig für mich - für die Identitätskonstruktion, aber allein auch deshalb, weil das ja Implikationen für die korrekte Behandlung hat.
Der Psychiater, den ich dann kennenlernte, schien mich endlich mal zu verstehen - endlich jemand, der sich mit AD(H)S und Autismus auskannte. Bei der dritten Sitzung oder so brachte ich ihm einen ausführlichen und mit Zitaten aus wissenschaftlichen Texten versehenen Aufsatz mit inkl. einer Liste meiner Symptome, mit dem Titel "Is it Autism?". Er schien erst verwundert, meinte, ich wäre eher hochsensibel und dass meine Emotionalität nicht zu Autismus passen würde (eine seltsame Aussage, finde ich). Er fragte mich dann nach den typischen Empathie-Defiziten und als ich das bejahte, schien er den "Diagnosevorschlag" doch plausibel zu finden. Nachdem er den Text dann gelesen hatte, stimmte er mir zu und er trug die Diagnose "Atypischer Autismus" ein.
Allerdings habe ich aufgrund dieser doch eher informellen Prozedur immer wieder Zweifel an der Gültigkeit meiner Diagnose. Der Psychiater ist zwar sehr gut, aber er kennt mich verhältnismäßig wenig. Ich war mir nicht sicher, ob er die Diagnose eher eingetragen hat, weil ich das so wollte, oder weil das auch seine "wissenschaftliche" Meinung war. Deshalb habe ich ihn dann explizit gefragt: "Darf ich sagen: Ich bin Autistin?" und er meinte, Ja.
Mir scheint allerdings, dass ich auch hier kaum die Kernkriterien erfülle. Routinen und eingeschränkte Interessen und Verhaltensweisen? Nicht wirklich - ich mache nur viel Stimming, das zählt vielleicht als "repetitive Verhaltensweise", und Spezialinteressen bzw. eine spezielle Art, Wissen zu sammeln, habe ich auch. Und Einschränkungen in der Kommunikation? Zumindest sind die Probleme nicht so extrem. In vertrauten Situationen bin ich sogar ziemlich sozialkompetent und kognitiv flexibel. Augenkontakt kann ich halten (außer bei Erschöpfung), Umarmungen und Händeschütteln sind okay. Die autistischen Probleme sind eigentlich eher die, die gerade nicht klassischerweise in den Diagnosekriterien stehen. Ich kann mich auch mit dem Konstrukt der "Kontextblindheit" gut identifizieren, und das wäre wieder so eine Sache, die auch bei Schizophrenen vorkommt.
Schizotypie und Autismus haben deutliche Überlappungen (siehe hier). Ich weiß schon seit über einem Jahr, dass ich diagnostisch in jeder Hinsicht zwischen die Schubladen falle (rw), aber so richtig komme ich immer noch nicht damit klar. Manchmal macht es mich einfach fertig: Soll ich anderen sagen, dass ich im Autismusspektrum bin? Oder stimmt das gar nicht? Darf ich einen Blogbeitrag über autistische Wahrnehmung schreiben?
Und: Was wäre, wenn Schizotypie weniger stigmatisiert wäre und wenn es eine Neurodiversitäts-Bewegung auch in diese Richtung gäbe? Ein Gedankenspiel.
Manchmal denke ich auch, ich sollte mich einfach davon abhalten, weiter über dieses Thema nachzudenken, weil es einem unlösbaren philosophischen Problem nahekommt. Vermutlich ist das eine vernünftige Option
Wie auch immer, es wird schon viel zu lang
Aber ich habe mein Ziel erreicht und mir alles von der Seele geschrieben (rw).
LG julai