Spektrumsgrenzen und Neurotypikalität

  • Ansonsten finde ich es wenig sinnvoll, Leute mit Begriffen wie "Autismus", "Asperger" o.ä. zu etikettieren, die im Alltag keine großen Probleme haben mit ihrem Naturell. So eine Diagnose macht nur dann Sinn, wenn jemand auch wirklich Probleme hat im Leben, die darauf zurückzuführen sind. Wenn also irgendeine therapeutische oder sonstige Intervention nötig ist, die dem Betroffenen helfen kann.

    Es kann in der Schule, bei den Ämtern oder Behörden ja auch so sein, dass man argumentiert "Vielleicht ist das so, vielleicht können Sie wirklich dies und jenes nicht - aber das müsste dann durch einen Fachmann bescheinigt werden". In der Hinsicht sehe ich auch in so eine Diagnose eine Art "Attest". Ansonsten kann man so eine Diagnose auch als eine Art Zusammenfassung für bestimmte Eigenheiten, Besonderheiten, Schwierigkeiten, Defizite oder Einschränkungen betrachten. Ich sehe vielerorts in der Nennung keinen Sinn und ich bevorzuge auch eher eine Welt, in der sich im Alltag eher Menschen begegnen und wo es nicht "tausende Schubladen" gibt über dessen Inhalt jeder Bescheid wissen muss oder sollte. So eine Diagnose ist für mich daher oft eher etwas Privates.

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  • Zitat

    Neurotypikalität ist doch gewiss auch kein gleichförmiger Zustand, der komplett ohne Spektrum auskommt.

    Wer keine Diagnose hat ist im Grundsatz neurotypisch. Wer zB ADHS hat, ist selbstredend nicht neurotypisch, selbes gilt für Depression, usw. Nur weil innerhalb der ICD-Diagnosen unterschiedliche Erscheinungsformen auftreten, benötigt man in diesem Rahmen das "Spektrum".
    Wer dagegen keine Diagnose hat, benötigt zur Erklärung seines Zustandes eben kein solches Denkmodell.

  • Ich sehe vielerorts in der Nennung keinen Sinn und ich bevorzuge auch eher eine Welt, in der sich im Alltag eher Menschen begegnen und wo es nicht "tausende Schubladen" gibt über dessen Inhalt jeder Bescheid wissen muss oder sollte. So eine Diagnose ist für mich daher oft eher etwas Privates.

    Genau so halt ich es meistens auch. Die Leute haben mehr Verständnis, wenn man erklärt, was für Probleme hat als wenn man irgendwelche Diagnosen nennt. Wenn man sagt: Ich bin etwas unspontan ist das für andere hilfreicher als Diagnosenoutings.

  • Genau so halt ich es meistens auch. Die Leute haben mehr Verständnis, wenn man erklärt, was für Probleme hat als wenn man irgendwelche Diagnosen nennt. Wenn man sagt: Ich bin etwas unspontan ist das für andere hilfreicher als Diagnosenoutings.

    Ja.

    Ich finde, dass Menschen auch realistisch gar nicht über alle mögliche "Schubladen" Bescheid wissen können. Im Zeitalter des Internets ist mir aufgefallen, dass es heutzutage sehr viele "Schubladen" gibt und wenn man davon ausgeht, dass jeder sich wünscht, dass andere Bescheid wissen, dann müsste man sich intensiv mit allen befassen. Aber das geht gar nicht und beruflich tun das z. B. Psychiater. Ich finde es auch einfacher, wenn man vor Ort sagt was Sache ist oder meinetwegen die Menschen nach dem "Learning by living"-Prinzip direkt vor Ort lernen, wie eine Person tickt. Es gibt ja innerhalb des ASS ja auch teils erhebliche Unterschiede. Manch einer mag vielleicht Licht, manch einer hat von PCs möglicherweise nicht so die Ahnung und manch einer liebt vielleicht sogar Sport.

    Weiter oben beschrieb jemand, dass jeder der keine ICD-Diagnose hat quasi "neurotypisch" ist. Jemand, der ADHS oder Depression hat, ist nicht "neurotypisch". Das sehe ich im Grunde auch so. Abgesehen von dem Problem, dass man bei der grauen Masse da draussen nie weiss welche psychiatrische Diagnosen vorliegen und man somit selten von "NT" reden kann, zeigt es doch auch: Jemand, der depressiv ist oder von ADHS betroffen ist, der befindet sich jenseits der Neurotypie. Wenn Depression oder andere psychiatische Erkrankungen bereits ausreichen um jenseits der Neurotypie zu landen, dann wäre ein Autist u. U. unterschiedlich:

    Beispiele:
    a) Asperger-Syndrom, keine weiteren Diagnosen
    b) Asperger-Syndrom + Major Depression
    c) Asperger-Syndrom + soziale Phobie + ADS

    Man hätte zwar dreimal mit einem Aspie zu tun, aber es könnte dennoch Unterschiede gäben, die sich allein schon aufgrund der zusätzlichen Diagnosen erklären liessen - von der individuellen Persönlichkeit, die jeder noch hat, ganz zu schweigen. Deswegen sind "Schubladen" manchmal auch so eine Sache... :roll:

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  • Ich möchte aber zu meinem Statement oben schon noch ergänzen, dass soweit ich die entsprechende Literatur verstehe jemand "neurotypisches" durchaus binnen Sekunden erkennen kann, ob das Gegenüber eine "Störung" hat. Deswegen werden auch Inhaber psychiatrischer Diagnosen sehr schnell "dünnhäutig" und aggressiv, wenn sie jemand schief anguckt.
    Solche Personen wären wohl früher der "Dorfdepp" gewesen und da ist die Bezeichnung über eine Diagnose vielleicht ein bisschen weniger unschön. Zu denken, wenn man selbst auf "Schubladen" verzichtet, dann stecken einen die Anderen auch nicht in eine, halte ich für blauäugig.

  • Wer dagegen keine Diagnose hat, benötigt zur Erklärung seines Zustandes eben kein solches Denkmodell.

    Wieso? Der Begriff "Spektrum" ist ein allgemeines Prinzip, das sich auf viele Phänomene, dessen Ausprägungen aus mehreren (im einfachsten Fall voneinander unabhängigen) Komponenten bestehen, anwenden läßt. Beispielsweise auf Farbe (zum Beispiel Komponenten Rot-Grün-Blau) oder Töne (Komponenten = Frequenzvielfache).

    Was hindert einen daran, die typischen Fähigkeiten oder Verhaltensweisen von Nicht-Autisten in Komponenten aufzugliedern und entsprechend Individuen einen Punkt auf dem entstehenden Spektrum zuzuordnen?

    Einmal editiert, zuletzt von 3f3ublatt (23. Februar 2016 um 19:33)

  • Deswegen werden auch Inhaber psychiatrischer Diagnosen sehr schnell "dünnhäutig" und aggressiv, wenn sie jemand schief anguckt.
    Solche Personen wären wohl früher der "Dorfdepp" gewesen und da ist die Bezeichnung über eine Diagnose vielleicht ein bisschen weniger unschön. Zu denken, wenn man selbst auf "Schubladen" verzichtet, dann stecken einen die Anderen auch nicht in eine, halte ich für blauäugig.

    Mir hat mal ein Psychiater erzählt, dass es bei Borderlinern z. B. so sei, dass in allen möglichen Situationen einen Bewertung ihrer Person sehen. Manche Menschen reagieren auch übertrieben auf Kritik. Ich glaube, wenn z. B. an Orten wie Schule oder Beruf jemand von einigen nicht akzeptiert wird, dass sich viele andere dann auch Distanz zu dieser Person halten und sich nicht selten gar zur Gruppe der Leute, die diese eine Person nicht akzeptieren anschliessen. Anderenfalls könnte es selbst Kritik hageln oder die Beziehungen zu den anderen könnte gestört werden (→ "Warum sprichst du mit dem? Niemand spricht mit dem!", → "Du bist ein Verräter! Warum redest du mit dem Arsch?").

    Dass andere einen nicht in eine "Schublade" stecken, wenn man selbst darauf verzichtet, das glaube ich auch nicht. Wenn die Intention negativer Natur ist, dann geht es vermutlich auch immer mehr um die Eigenschaften, die andere befremdlich finden. Der frühere "Dorfdepp" oder merkwürdige unsportliche "Kauz" in der Schule, hätte heutzutage sicherlich ein psychiatrisches Erklärungsmodell. Ich glaube gar, dass im Zuge der Political Correctness viele Leute sich auch nach aussen tolerant präsentieren. Das Problem ist vermutlich, dass es oft nur eine Fassade ist hinter der weiterhin die Ablehnung von einst, wie damals beim "Dorfdepp", ein Stück weit fortlebt. Einen gewissen Fortschritt meine ich aber allgemein dennoch festzustellen - nämlich dass psychiatrische Diagnose - vor allem ab den 2000ern - deutlich salonfähiger geworden sind.

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  • Jemand, der ADHS oder Depression hat, ist nicht "neurotypisch"

    Bei Depression zumindest sehe ich das anders. Neurotypizität hat mit der neurologischen Grundausstattung zu tun während Depression eine Krankheit ist die sowohl neurologisch ganz normale Menschen wie neurologisch sehr unnormale Menschen überfallen kann. (Vielleicht gibt es aber bei endogenen Depressionen eine genetisch bedingte nicht-neurotypische Neigung zur Depression, was wiederum mit der neurologischen oder metabolischen Grundausstattung zu tun haben würde). Bin nicht au fait mit der spätesten Forschung aber.

    Dass meine Beiträge so oft editiert werden hat meistens aber nicht immer damit zu tun dass ich sowohl grammatikalische oder syntaktische wie auch stilistische oder einfache Schreibfehler nicht immer sofort sehe und sie deswegen nachträglich korrigieren muss.

  • ... nach 6 Monaten ...
    aber gut: ich denke, wenn sich die Gehirnstruktur aufgrund der Depression ändert, dann ist auch Schluss mit neurotypisch. Ich weiß aber nicht, wie schnell so was geht.

  • sowohl neurologisch ganz normale Menschen wie neurologisch sehr unnormale Menschen

    Sorry, ich muss an dieser Stelle einfach mal sagen, dass der Begriff "neurologisch normal" oder "neurologisch typisch" aus medizinischer/wissenschaftlicher Sicht völliger Quatsch ist.
    Lest mal nach, was "neurologisch" bedeutet.
    Dann wird Euch klar werden, dass dieses Wort keinen Sinn macht in Bezug auf eine normale oder nicht normale Gehirnfunktion, schon gar nicht in Bezug auf Autismus und seine Abgrenzung von "allem anderen".

    Kein Mensch hat ein "Norm-Gehirn". Das gibt es nicht.
    Und es ist auch noch nicht abschließend geklärt, ob im Gehirn von Autisten wirklich morphologisch oder funktionell irgendwas anders ist (und wenn ja, was eigentlich). Die bisherigen Studien sind widersprüchlich und die Ergebnisse vieler Studien mit "sensationellen Befunden" (z.B. Ecker-Studie) konnten nicht repliziert werden.

    Wenn wir beim Wort "neurologisch" bleiben:
    Viele "ganz normale" Menschen sind dennoch "neurologisch auffällig" in einer ausführlichen Untersuchung. Aber das hat nichts mit Autismus o.ä. zu tun.
    Ab einem gewissen Alter sind praktisch alle Menschen mehr oder weniger "neurologisch auffällig", und sei es nur, weil sie eine Polyneuropathie haben oder Reflexe vermindert sind.

    Insofern wäre ich sehr dafür, dieses Wort ("neurologisch-tyisch") nicht mehr zu verwenden und in der Kommunikation darauf hinzuarbeiten, treffendere Begrifflichkeiten zu verwenden.
    Am einfachsten und von mir häufig verwendet: "autistisch" und "nicht autistisch".

  • Sorry, ich muss an dieser Stelle einfach mal sagen, dass der Begriff "neurologisch normal" oder "neurologisch typisch" aus medizinischer/wissenschaftlicher Sicht völliger Quatsch ist.
    Lest mal nach, was "neurologisch" bedeutet.
    Dann wird Euch klar werden, dass dieses Wort keinen Sinn macht in Bezug auf eine normale oder nicht normale Gehirnfunktion, schon gar nicht in Bezug auf Autismus und seine Abgrenzung von "allem anderen".

    Danke für die Berichtigung. Die Unterscheidung die ich machen wollte war nur die zwischen angeblich angeborenen (bzw sehr früh erworbenen) Syndromen wie AS und (späteren, episodalen) Krankheiten wie Depression. Wie zum Beispiel auch zwischen Downs Syndrom und einer reaktiven Depression, oder zwischen einem angeborenen Herzfehler und Masern. (Ich war selber in Behandlung für eine schwere Depression in meiner Jugend und war sogar sehr krank zu der Zeit aber ich bin soviel ich weiss vollkommen geheilt, seit Jahrzehnten. Während der Depression waren bestimmt neurologische Veränderungen vorhanden aber diese Veränderungen waren nicht da von Geburt an und sind nicht geblieben, hoffentlich.)

    Offensichtlich ist der ganze Begriff "neurologisch typisch" sinnlos, weil vollkommen undeterminiert ("typisch" anstatt was gerade? In welcher Hinsicht typisch?). Wenn jemand kein Cortex hätte oder nur ein winziges Corpus Callosum dann wäre er "neurologisch untypisch" in Hinsicht auf diese Anomalie, was nicht bedeuten würde dass es irgendwo Menschen gäbe die "neurologisch typisch" wären in einem absoluten Sinne. Es ist untypisch nur einen Arm zu haben aber das bedeutet nicht dass alle zweiarmigen Menschen "physiologisch typisch" sind in einem absoluten Sinn. Ihre Typizität beschränkt sich auf die Zweiarmigkeit im Vergleich zu Einarmigkeit.

    Die Medien und viele allgemein zugänglichen Bücher über AS betonen ständig dass AS festverdrahtet ist oder ein Teil des "Hardwares" oder dass es ein angeborenes "Anderssein" ist. Als Laie ist man nicht verpflichtet das zu verstehen in Detail. Sowie ich es verstanden hatte war irgendeiner angeborene oder früh erworbene physiologische Unterschied zu "typischen" Menschen gemeint und zwar im Nervensystem eher als anderswo. Dazu kommt dieser Ausdruck "neurotypisch" welcher, auch wenn es solche Menschen gar nicht gibt, den starken Eindruck erweckt dass "Aspies" neurologisch untypisch sind. Obwohl die etwas wissenschaftlicheren Bücher die ich gelesen habe betonen normalerweise dass AS über Verhalten definiert wird und nicht über neurologische Befunde.

    Dass meine Beiträge so oft editiert werden hat meistens aber nicht immer damit zu tun dass ich sowohl grammatikalische oder syntaktische wie auch stilistische oder einfache Schreibfehler nicht immer sofort sehe und sie deswegen nachträglich korrigieren muss.

    Einmal editiert, zuletzt von Unbewohnte Insel (3. August 2016 um 21:55)

  • Die Medien und viele allgemein zugänglichen Bücher über AS betonen ständig dass AS festverdrahtet ist oder ein Teil des "Hardwares" oder dass es ein angeborenes "Anderssein" ist. Als Laie ist man nicht verpflichtet das zu verstehen in Detail. Sowie ich es verstanden hatte war irgendeiner angeborene oder früh erworbene physiologische Unterschied zu "typischen" Menschen gemeint und zwar im Nervensystem eher als anderswo. Dazu kommt dieser Ausdruck "neurotypisch" welcher, auch wenn es solche Menschen gar nicht gibt, den starken Eindruck erweckt dass "Aspies" neurologisch untypisch sind. Obwohl die etwas wissenschaftlicheren Bücher die ich gelesen habe betonen normalerweise dass AS über Verhalten definiert wird und nicht über neurologische Befunde.

    Man sollte auch Bedenken, dass eine genetische Ursache für Autismus scheinbar hauptsächlich angenommen wird, aber es gibt auch bekannte Fälle von Autismus, die im Zuge einer Infektion entstanden sind und somit nicht angeboren waren. Zwei Beispiele wären Birger Sellin und Axel Brauns.

    Die Wortkreation "neurotypisch" fand ich quasi mit dem Eintritt ins Forum 2008. Aber im selben Jahr noch hatte ich an dieses "neurotypisch" schon nicht mehr geglaubt. Ich empfand es als Laientum par excellence, dass manche quasi alles um sich herum als "NT" betitelt haben, wie so eine Art "Zweiteilung der Welt: AS und NT". Mir kam das vor wie zwei Schubladen, in denen weder die eine noch andere Schublade einen Inhalt hat, der einheitlich ist - d. h. ich fand, dass die Menschen da draussen alles andere als typisch sind, ebenso fand ich diese ganzen Aspies im Netz alles andere als (einheitlich) untypisch. Ich fand, dass "NT" in erster Linie praktisch ist, wenn Unterschiede "AS <-> NA" diskutiert werden. Aber das Problem dabei ist, dass man quasi nie weiss, ob jemand wirklich "neurotypisch" ("normal") ist oder ob eine psychiatrische Diagnose vorliegt, wie z. B. diverse Persönlichkeitsstörungen oder eben gar das Asperger-Syndrom. Ansonsten dachte ich mir oft beim Lesen über die Jahre "Woher weiss User XY eigentlich, dass ein bestimmtes Verhalten neurotypisch ist? Wo steht eigentlich geschrieben, was alles neurotypisch ist?".

    Anderseits können Kormorbiditäten sicherlich auch einen starken Einfluss haben, so dass auch bei AS nicht alles vom AS direkt kommen muss. Eine bleierne Depression könnte quasi auch "vorne" sein, d. h. vieles übersteuern oder beeinflussen und der Aspie könnte dann untypisch sein, aber je nach Schwere anderer Faktoren eben auch wiederum nicht ganz typisch wie andere "AS-Kollegen", bei denen diese Komorbiditäten nicht vorliegen. Es ist ja offenbar so, dass selbst die Fachwelt nicht spontan erkennen kann, ob jemand nun autistisch ist, ob jemand mit autistoiden Zügen daherkommt, deren Ursachen aber nicht Autismus ist, ob gar nichts Bekanntes vorliegt oder ob "Normalität" vorliegt, die sich irgendwie erklären lässt.

    Was neurotypisch ist oder was z. B. eine Depression auf neurochemischer Ebene genau ist, ich denke da ist noch lange nicht das letzte Wort gesprochen.

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  • Ich finde "neurotypisch" als Arbeitsbegriff sehr wohl sinnvoll. Denn es gibt Leute, die weder eine Krankheit noch eine Behinderung haben.
    Die Abweichung von diesem Zustand ist doch grade der, der die "Behinderung" bzw. Erkrankung darstellt.
    Folgte man Deiner/Eurer Argumentation, müssten die Schwerbehindertenausweise abgeschafft werden und jede Person (!) müsste stattdessen einen Diversitätsausweis bekommen — was für ein Aufwand. Außerdem wollen vielleicht nicht alle?

  • Folgte man Deiner/Eurer Argumentation, müssten die Schwerbehindertenausweise abgeschafft werden und jede Person (!) müsste stattdessen einen Diversitätsausweis bekommen — was für ein Aufwand. Außerdem wollen vielleicht nicht alle?

    Falls Du Dich auch auf mich beziehst: Nein, das meine ich nicht.

  • Ich stimme vollkommen damit überein, dass sich Autismus über ein Spektrum erstreckt, dass verschiedenste Ausformungen hat und so divers wie die Zahl von Autisten selbst ist.

    Schizophrenie-Spektrum-Störung


    Hallo,

    ich hole diesen Thread mal wieder aus der Versenkung (RW) weil das Thema, das mich gerade beschäftigt, gut hier reinpasst. Ich habe mir gestern Abend einen Vortrag über Schizophrenie von Ludger Tebartz van Elst angesehen: Gehirn und Krankheit - 5. Freiburger Abendvorlesung 2015 - YouTube
    Darin legt der Psychiater dar, dass der heutige Schizophreniebegriff eine Reihe von Phänomene umfasse, die höchst unterschiedlichen Ursprungs sein können. Zu der Zeit, wo der heutige Schizophreniebegriff entstand, sei die Neurosyphilis ein großes Thema gewesen und die damalige Wissenschaft davon geprägt gewesen, dass sie lernen musste, dass sämtliche Symptome der Neurosyphilis, die auch unabhängig voneinander auftreten können, von einem Bakterium ausgelöst werden (31:16min). Deshalb habe man gehofft, dass es bei anderen Symptomen genauso wäre und in der Hoffnung das "Schizophrenie-Bakterium" zu finden habe man deshalb unterschiedlichste Symptome unter dem Oberbegriff Schizophrenie erfasst. Heute wisse man, dass bei Erkrankungen, die man dem schizophrenen Formenkreis zuordnet ganz unterschiedliche Dinge ursächlich sein können, z.T. auch Formen der Encephalitis, die natürlich ganz anders behandelt werden müssen als die "klassische Schizophrenie" (57:20min). U.a. damit eine differenzierte Behandlung erfolgen kann plädiert Herr Tebartz van Elst für die "Abschaffung" der Schizophrenie (57:10min) und für eine beschreibende Terminologie (58:32min).

    Ich überlege mir, ob es sich mit der Diagnose einer Autismus-Spektrums-Störung nicht heutzutage ähnlich verhält wie ehedem mit der Schizophrenie. So mancher Arzt bietet inzwischen an, mit Gesprächen an einem bis paar wenigen Terminen zu diagnostizieren ob jemand eine ASS hat. Und irgendwie habe ich das Gefühl wird der ASS-Begriff immer breiter. Ich überlege mir, ob es nicht auch im Sinne des Patienten wäre, wenn grundsätzlich immer eine deutlich umfangreichere Diagnostik erfolgen müsste und - da es bisher keine eindeutigen biologischen Marker für Autismus gibt - Autismus erst diagnostiziert werden sollte, wenn sonst keine andere Krankheit zutrifft? Zum einen damit keine körperliche Ursache übersehen wird, die womöglich autistisches Verhalten verursacht, zum anderen weil es bei Störungsbildern, die autismusnah sind, wie soziale Phobie oder Persönlichkeitsstörungen, effektive Therapiemethoden bestehen.

    Wenn ich diesen Gedanken weiterverfolge, überlege ich, ob nicht z.B. jemandem mit einer Impulskontrollstörung, Schwierigkeiten im Sozialverhalten und einer Reizfilterstörung nicht eher geholfen ist, wenn ihm DBT wegen der Impulskontrollstörung, Soziales Kompetenztraining wegen der Schwierigkeiten im Sozialverhalten und ein Neuroleptikum oder Amphetamin wegen der Reizfilterstörung angeboten wird, statt dass eine ASS diagnostiziert wird und der Hilfesuchende dann z.B. hier im Forum landet und feststellt, dass es Therapien für Erwachsene mit ASS eh so gut wie gar nicht gibt? (Bzw. manche Ansätze, wie z.B. TEACCH, ihm eh nicht weiterhelfen würden weil er ganz andere Problemlagen hat.)

    Würde mich freuen, wenn jemand seine Gedanken zu meinen Überlegungen äußern mag. :)

    Surprised by the joy of life.

  • Ich überlege mir, ob es sich mit der Diagnose einer Autismus-Spektrums-Störung nicht heutzutage ähnlich verhält wie ehedem mit der Schizophrenie. So mancher Arzt bietet inzwischen an, mit Gesprächen an einem bis paar wenigen Terminen zu diagnostizieren ob jemand eine ASS hat. Und irgendwie habe ich das Gefühl wird der ASS-Begriff immer breiter. Ich überlege mir, ob es nicht auch im Sinne des Patienten wäre, wenn grundsätzlich immer eine deutlich umfangreichere Diagnostik erfolgen müsste und - da es bisher keine eindeutigen biologischen Marker für Autismus gibt - Autismus erst diagnostiziert werden sollte, wenn sonst keine andere Krankheit zutrifft? Zum einen damit keine körperliche Ursache übersehen wird, die womöglich autistisches Verhalten verursacht, zum anderen weil es bei Störungsbildern, die autismusnah sind, wie soziale Phobie oder Persönlichkeitsstörungen, effektive Therapiemethoden bestehen.

    meine Gedanken die freilich nicht so ausgefeilt und fundiert sind, gehen in eine ähnliche Richtung. ich hoffe für mich als potentieller Patient sehr, dass ich eine in diesem Sinne ausführliche Diagnostik bekommen kann. bei einer Selbstzahler-Diagnostik an möglicherweise nur einem Termin in einer niedergelassenen Praxis bin ich skeptisch

  • meine Gedanken die freilich nicht so ausgefeilt und fundiert sind, gehen in eine ähnliche Richtung. ich hoffe für mich als potentieller Patient sehr, dass ich eine in diesem Sinne ausführliche Diagnostik bekommen kann. bei einer Selbstzahler-Diagnostik an möglicherweise nur einem Termin in einer niedergelassenen Praxis bin ich skeptisch

    Jede ordentliche Stelle erfüllt heute schon exakt die Anforderungen, die Surprised vorstellt.
    Nur dass es eben einen Wildwuchs an Ärzten gibt, wo letztlich keiner sich an verbindliche Standards halten muss.

  • Ich denke auch, dass Autismus eine "Regenschirmdiagnose" ist, die viele unterschiedliche Menschen umfasst. Ich weiß nicht, was du unter Autismus verstehst. Ich denke, Reizfilterschwäche gehört dazu. Auch Ängste. Beides kann man symptomatisch mildern. Mangelnde Kommunikationsfähigkeit kann eine Folge der unterschiedlichen Wahrnehmung der Welt sein.

    Da viele mit den Unterschieden im Autistischen Spektrum unzufrieden sind, werden andere Kriterien entwickelt, sogenannte "Research domain Criteria" (RdoC), die es ermöglichen, eher Symptome zu sehen, als den Oberbegriff. https://journals.sagepub.com/doi/full/10.1177/1362361318782586

    Im deutschsprachigen Internet findet man zu Autismus und Biologie leider nur sehr wenig, auf Englisch viel mehr. Es wird experimentiert mit Vitaminen und Mineralien, Genen und MRT.
    Vielleicht ist Autismus nicht heil- aber reduzierbar? Vielleicht gibt es Menschen, die in ihrem Leben Phasen von "Autismus" erleben, die wieder weggehen? Vielleicht kann man sich als neurodivers bezeichnen und sich nicht "krank" fühlen. Es gibt ja auch die Definition, dass zur Diagnose das Leiden an den Symptomen gehört. Das finde ich nicht schlecht, denn mit Neurodiversität gehen auch die Fördermöglichkeiten und Nachteilsausgleiche verloren, die viele dringend brauchen.

    Ich finde, dass man mit der Diagnose Autismus ziemlich allein gelassen wird. Denn es gibt viel, was man als Hilfe anbieten könnte und daran, ob es hilft, könnte man dann auch sehen, ob die Diagnose stimmt.
    Was mich sehr aufregt, ist, wenn ich lese, Asperger sei eine "milde" Form von Autismus, oder Menschen, die sich als Autisten bezeichnen, obwohl sie kaum Schwierigkeiten haben. Ich finde meinen Autismus nicht mild. Aber ich will trotzdem Therapiemöglichkeiten angeboten bekommen, wie Logo- und Ergotherapie, evtl. Mängel im Blut feststellen, MRT wenn ich möchte, Nachteilsausgleiche für Schule, Wohnen und Arbeit, Weiterbildung von Ärztinnen und Lehrern, Brillen, Hörgeräte, kompetente Beratung, umfassender Allergietest auch auf Chemikalien.

    Bei Temple Grandin habe ich gelesen, dass angeblich Forschung dazu existiere, dass die Kinder, die mit ca. 1,5 Jahren nach Impfungen autistische Symtome entwickelten, ein "mitochondrial disease" hatten. Sie reagierten sehr empfindlich auf "Booster", die Impfungen beigemischt werden, oder Proteine, die die Basis der Impfdosen bilden.

    Ich interessiere mich für mögliche biologische Ursachen von Autismus, wie sie auch für Depression viel erforscht werden und habe Herrn Prof. Tebartz-van-Elst deshalb mal geschrieben, was er davon hält. Er antwortete, dass "es momentan keine Evidenz für Aussagen zu immunologischen Mechanismen und Autismus gebe", er die möglichen Zusammenhänge aber auch sehr spannend fände.

  • Vielleicht kann man sich als neurodivers bezeichnen und sich nicht "krank" fühlen. Es gibt ja auch die Definition, dass zur Diagnose das Leiden an den Symptomen gehört. Das finde ich nicht schlecht, denn mit Neurodiversität gehen auch die Fördermöglichkeiten und Nachteilsausgleiche verloren, die viele dringend brauchen.

    Das ist schlicht Unsinn. Man kann sehr wohl Neurodiversität mit der Unterstützung von Individuen verbinden. Nur wäre dann die Unterstützung nicht notwendigerweise an irgendeine spezifische Diagnose gebunden, sondern schlicht an die (amtliche oder wie auch immer geregelte) Feststellung einer Hilfsbedürftigkeit - was mir auch völlig ausreichend scheint.

    Was mich sehr aufregt, ist, wenn ich lese, Asperger sei eine "milde" Form von Autismus, oder Menschen, die sich als Autisten bezeichnen, obwohl sie kaum Schwierigkeiten haben.

    Das kann ich so unterschreiben, ist halt schlicht schlampige Sprache. Was man klassischerweise als Asperger-Syndrom bezeichnet, hat im Schnitt eben mildere Symptome (was natürlich nichts über das Individuum aussagt), was aber nicht gleichbedeutend mit milderem Autismus ist. Autismus ist ja etwas, was sich im Innenleben abspielt, da haben Außenstehende sowieso nur sehr begrenzten Einblick. Jemand kann stark beeinträchtigt sein und gleichzeitig über sehr umfassende Kompensationsstrategien verfügen.

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