Spektrumsgrenzen und Neurotypikalität

  • Mein Onkel ist 66 und hat keine Diagnose. Sein ganzes Verhalten, seine Lebensweise etc. sprechen eine deutliche Sprache.

    Als was darf ich Autismus nennen? Was ist das Biest denn? Behinderung, weil es mich im Leben behindert? Störung, weil es mich oft stört Autist zu sein? Krankheit, in der Hoffnung das es Mal ein Heilmittel geben wird?

  • Als was darf ich Autismus nennen? Was ist das Biest denn? Behinderung, weil es mich im Leben behindert? Störung, weil es mich oft stört Autist zu sein? Krankheit, in der Hoffnung das es Mal ein Heilmittel geben wird?

    Nachdem es keine Sprachpolizei gibt (auch wenn das gerade im Internet oft anders wirkt), darfst du Autismus als was immer dir beliebt bezeichnen.
    Ohnehin sind ja alle Begriffe letztlich vor allem soziale Konvention, die Krankheit von gestern ist die Neurodiversität von morgen.

  • Krankheit, in der Hoffnung das es Mal ein Heilmittel geben wird?

    Krankheit ist die (bisher) einzige Bezeichnung, die mich bei Autismus stört. Wenn ich "geheilt" würde, wer wäre ich dann? Es bliebe wenig von mir übrig. Ich bin, wie ich bin - (auch) Autistin. Und die will ich auch bleiben und nicht "geheilt" werden.

    Jedes mal, wenn man mir sagt, ich wäre nicht gesellschaftsfähig,
    werfe ich einen Blick auf die Gesellschaft und bin überaus erleichtert.

  • Auch eine alte Diskussion, aber für mich ist Krankheit im weiteren Sinn ein Begriff für etwas, das außer der Norm liegt und das tun Autisten. Und Autisten haben Defekte, und auch Defekte können nützlich sein.

    Ja, alte Diskussion siehe:
    Autismus - Behinderung oder Krankheit?

    (... allerdings stimme ich ganz und gar nicht zu, dass alles außerhalb der Norm liegende Krankheit sei, dazu ist das Leben und die Natur zu vielfältig!)

    Einmal editiert, zuletzt von maksa (4. März 2021 um 16:31)

  • (... allerdings stimme ich ganz und gar nicht zu, dass alles außerhalb der Norm liegende Krankheit sei, dazu ist das Leben und die Natur zu vielfältig!)

    naja, es gibt ja zum Beispiel viele Autismus-tests. Die haben einen Grenzwert, ab dem es Autismus ist. Wenn ca. 1 von 100 Menschen autistisch ist, sind es 99 nicht. Sie antworten also alle so, dass sie unter dem Grenzwert liegen. Sie haben nicht alle dieselbe Punktzahl, aber sie liegen doch näher beieinander als mit den Autisten. Klar gibt es den Fast-Autisten und den Fast-Normalen, die nah beieinander liegen. Aber wenn man als Autist viele Tests macht und immer als Ergebnis Autismus bekommt, gibt es wohl doch Kriterien, die auf einen zutreffen.

    (z.B. Fokus auf Details statt Ganzem, kein gemeinsamer Aufmerksamkeitsfokus, schlechte Erkennung von Emotionen im Gesicht, Ängste, erhöhter Stresslevel...) Diese Merkmale sind in einer sozialen Gruppe ungünstig. Je größer die soziale Gruppe ist, desto eher kann sie von einem besonderen Mitglied profitieren. Aber die Gruppe verständigt sich auch immer wieder über ihre Gleichheit, und die ist ihr auch wichtig. Wenn jemand die Regeln verletzt und die Mehrheit ihn nicht versteht, wird er schnell abgelehnt. Der Begriff "Krankheit" kann dann helfen.

  • Autismus als solcher ist zunächst einmal nicht phatologisch, es sei denn er geht z.B. mit einer Intelligenzminderung o.ä. einher. Und warum müssen alle glattgebügelt der Norm entsprechen? Bei der Sexualität kommt die Gesellschaft jetzt auch langsam dahin andere Lebenskonzepte die nicht der Norm entsprechen und Niemanden in seiner Freiheit einschränken zu akzeptieren. Außerdem gibt es bei der Norm auch reichlich NT die durchs Raster fallen, sprich die nicht die Norm erfüllen. Für die ist es vllt. etwas einfacher, weil sie nicht das "Päckchen" des Autismus mit sich rumschleppen müssen. Jeder ist wie er ist und es ist in meinen Augen Aufgabe der Gesellschaft jeden mitzuziehen und jeden seinen Raum zu geben, den sie/er benötigt. Autismus ist per Definition schon keine Krankheit. Der Begriff Krankheit kann nicht helfen, sondern führt eher zu einer stigmatisierung. Das ist meine unwesntliche Meinung.

  • Autismus als solcher ist zunächst einmal nicht phatologisch

    Wenn man nach ICD oder DSM geht schon, da dann Einschränkungen im Alltag vorliegen bei den Betroffenen.
    Deshalb kann man mit dieser Diagnose entsprechend auch Hilfen beantragen. Es ist zumindest in dem Sinne dann meist eine Behinderung nach dem Sozialgesetzbuch:

    Zitat

    Menschen sind behindert, wenn ihre körperliche Funktion, geistige Fähigkeit oder seelische Gesundheit mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweichen und daher ihre Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt ist.

    Diese Einordnung ist sehr wichtig, um eben auch Hilfen bekommen zu können, auf die man angewiesen ist.

    Für "nur eine andere Art des Seins" ohne Einschränkungen etc. gibt es ja den schönen Begriff BAP (Broader Autism Phenotype) oder den bereiten Begriff der Neurodivergenz (häufig wird auch Neurodiversität als Begriff gebraucht, welcher dann aber theoretisch alles an Diversität umfasst und nicht nur den "abweichenden" Teil, weshalb ich hier Divergenz gebraucht habe).

  • Es ist zumindest in dem Sinne dann meist eine Behinderung nach dem Sozialgesetzbuch:

    Das ist nicht die aktuelle Definition des SGB.

    Menschen mit Behinderungen sind Menschen, die körperliche, seelische, geistige oder Sinnesbeeinträchtigungen haben, die sie in Wechselwirkung mit einstellungs- und umweltbedingten Barrieren an der gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate hindern können. Eine Beeinträchtigung nach Satz 1 liegt vor, wenn der Körper- und Gesundheitszustand von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweicht.

    Ich weiß nicht, ob es besser wird, wenn es anders wird. Aber es muss anders werden, wenn es besser werden soll. (Georg Christoph Lichtenberg)
    Veränderungen führen deutlich öfter zu Einsichten, als dass Einsichten zu Veränderungen führen. (Milton H. Erickson)
    Morgen werde ich mich ändern, gestern wollte ich es heute schon. (Christine Busta)

  • Mein Sohn ist laut Aussage seines Psychiaters und auch seiner Psychologin sehr weit im Spektrum und bekommt auf Grund dessen auch ziemlich viel Unterstützung, wie z.B. einen Pflegegrad (3), Schulbegleitung, durchgehende Ergo, Nachteilsausgleich in der Schule etc. Dieses würde er sicher nicht bekommen, wenn Autismus nicht als Behinderung anerkannt wäre. Ich als Vater sehe meinen Sohn nicht als Behindert, genauso wenig wie die anderen Menschen die ich aus dem Spektrum kenne (2). Für mich ist mein Sohn"richtig", halt nur sehr speziell. Um für ihn die nötige Unterstützung zu bekommen ist das Branding Behinderung notwendig, es sorgt aber gleichzeitig dafür das er in großen Teilen der Gesellschaft in eine bestimmte Ecke gestellt wird. Ich arbeite in der Behindertenassistenz und bin immer wieder erstaunt wie wenig Kenntnis zum Thema Autismus im Kollegenkreis herrscht, obwohl das auch zu unserem täglichen Arbeitsleben gehört. Diese Unwissenheit oder Eindimnsionales Denken im profesionellen Bereich, da kann ich doch nicht erwarten das ein "Normalbürger" sich den Stempel Behinderung differenziert anschaut. Von daher meine Ressentiments gegen diese Begrifflichkeit.

  • Wieder was gelesen zum Aspekt, "Autismus als Regenschirmdiagnose":

    "While the link between autism and celiac disease needs furtherresearch, there are cases of people who have managed to successfullytreat the symptoms of autism with a gluten-free diet. Those previouslydiagnosed as autistic saw their autistic behaviours either lessen ordisappear completely. It is quite possible that these people were nevertruly autistic to begin with, but rather their celiac symptoms were misdiagnosed. It could however be the case that gluten-free diets cansuccessfully treat autism"


    Und noch ein Versuch zur präziseren Diagnose: Precise minds in an uncertain world. EIn Versuch, als Diagnosekriterium zu nehmen, wie man mit Irrtum umgeht, wenn ich es richtig verstehe.

    Diese Unwissenheit oder Eindimnsionales Denken im profesionellen Bereich, da kann ich doch nicht erwarten das ein "Normalbürger" sich den Stempel Behinderung differenziert anschaut. Von daher meine Ressentiments gegen diese Begrifflichkeit.

    Da hilft nur Aufklärung. Mein Begriff von "Behinderung" hat sich gerade dadurch, dass ich sie an mir selber akzeptiere, obwohl ich mich ziemlich hochfunktional finde, sehr zum Positiven verändert.

    2 Mal editiert, zuletzt von Illi (8. März 2021 um 09:54)

  • Um für ihn die nötige Unterstützung zu bekommen ist das Branding Behinderung notwendig, es sorgt aber gleichzeitig dafür das er in großen Teilen der Gesellschaft in eine bestimmte Ecke gestellt wird.

    Vielleicht sollte man dann nicht das Wort Behinderung ändern oder verteufeln, sondern es sich zurückerobern?
    Nur weil die Gesellschaft bestimmte Worte als Stigma und Beleidigung missbraucht sind sie nicht schlecht.
    Ich halte Behinderung für ein neutrales Wort, dass an vielen Stellen für mich wichtig ist um Unterstützung zu bekommen.

    Ich bin behindert und das ist okay. Ich bin behindert und ich bin richtig, wie ich bin.

  • Vielleicht sollte man dann nicht das Wort Behinderung ändern oder verteufeln, sondern es sich zurückerobern?
    Nur weil die Gesellschaft bestimmte Worte als Stigma und Beleidigung missbraucht sind sie nicht schlecht.
    Ich halte Behinderung für ein neutrales Wort, dass an vielen Stellen für mich wichtig ist um Unterstützung zu bekommen.

    Ich bin behindert und das ist okay. Ich bin behindert und ich bin richtig, wie ich bin.

    Grundsätzlich bin ich da eigentlich deiner Meinung.
    Allerdings sehe ich nicht, wie man sich da einen neutralen Gebrauch des Wortes Behinderung zurückerobern kann.
    Wann soll denn das gewesen sein, als das Wort Behinderung nicht in weiten Teilen der Gesellschaft stigmatisierend benutzt wurde?
    Die Stigmatisierung von Behinderten war vor 50 Jahren noch viel ausgeprägter als heute und ist deutlich rückläufig.

    Ich weiß nicht, ob es besser wird, wenn es anders wird. Aber es muss anders werden, wenn es besser werden soll. (Georg Christoph Lichtenberg)
    Veränderungen führen deutlich öfter zu Einsichten, als dass Einsichten zu Veränderungen führen. (Milton H. Erickson)
    Morgen werde ich mich ändern, gestern wollte ich es heute schon. (Christine Busta)

  • Ich finde das Wort Behinderung nicht stigmatisierend. Und wenn es das wäre, würde ein anderes Wort daran auch nichts ändern. Die Euphemismus-Tretmühle ist altbekannt. Am besten steht man zu seinen Handicaps, weil sie ja nun mal da sind (da braucht man auch nicht so zu tun als wären sie nicht da), und ist ansonsten eben einfach trotzdem selbstbewusst.

    Historisch gesehen waren die schrecklichsten Dinge wie Krieg, Genozid oder Sklaverei nicht das Ergebnis von Ungehorsam, sondern von Gehorsam.
    (Howard Zinn)

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