Vestibulärsinn, Propriozeption und Interozeption

  • Im Internet gibt es eine neue Broschüre auf Englisch https://www.autismwellbeing.org.uk/resources mit dem Titel Autism, A Guide for parents. Darin wird Autismus als Kommunikationsschwierigkeit und soziale Schwierigkeit mit dem Resultat besonderer Interessen und Verhaltens beschrieben, die alle auf der verstärkten oder schwachen Wahrnehmung der Sinnesreize beruhen.
    Besonders wird eingegangen auf Propriozeption, Vestibulärsinn und Interozeption.

    Aus dem Inhalt:

    Vestibulär-Sinn: wo befinde ich mich im Bezug auf Schwerkraft?

    Wenn dieser Sinn nicht genug oder verstärkt wahrgenommen wird, erzeugt das Angst und Unsicherheit.
    Als Reaktion auf zu schwache vestibuläre Reize versucht man, den Vestibulär-Input zu erhöhen, z.B. durch Schaukeln, schwingen, über-Kopf-hängen, Zentrifugalkraft verstärken. Dadurch besteht die Gefahr, sich zu verletzen, weil man zu hohe Reize möchte.
    Als Reaktion auf zu starke vestibuläre Reize versucht man, sich ganz ruhig zu halten. Schon das Befinden im ersten Stock kann zu Schwindel führen. Autofahren verursacht Übelkeit, Liegen oder sogar die Füße vom Boden hochzuheben kann zu Schwindel führen.

    Anregungen für den Vestibulärsinn: Sitzball, Trampolin.
    Dämpfung des Vestibulärsinns: beim Sitzen Kontakt der Füße mit dem Boden.


    Propriozeption: Wo ist mein Körper und wo endet er? Muskelspannung, Bewegung, Gelenke

    Reaktion auf zu schwache Wahrnehmung der Propriozeption:
    oft Verletzungen und blaue Flecke, Wunsch nach Druck und Quetschen, Finger und Arme kneten, Selbstverletzendes Verhalten.
    Anregungen für den Propriozeptionssinn:
    schwere Spielzeuge: Erde umgraben, ringen, mit Hanteln turnen, Massage, dickflüssige Säfte mit dem Strohhalm trinken, vibrierende Massage, schwimmen, schwere Decke


    Interozeption: schwache Wahrnehmung von Hunger, Durst, Schmerz, Harndrang, Wut, erotischen Gefühlen
    Wenn diese Wahrnehmung schwach ist, kann man auch entsprechend schlecht darauf reagieren.
    Wenn die Interozeption verstärkt wahrgenommen wird, sind Umarmungen unangenehm, sogar Gelobt werden kann sehr unangenehm wahrgenommen werden.


    Wenn diese Wahrnehmungen nicht oder schwach oder stark registriert werden, kann das auch Folgen haben, z.B. für das Wohlfühlen in Räumen, die voll sind. Oder für die Wahrnehmung von Zeit. Oder man spürt Schmerzen nicht zeitnah und deshalb wird einem nicht geglaubt.
    Durch das Unverständnis zwischen der autistischen und der nichtautistischen Wahrnehmung kommt es dann zu „Overloads“,die zu einer Fight/Flight/Freeze-Reaktion führen. Beispiele für solche Reaktionen:

    Flucht: schnelles Atmen, Unruhe, vegetative Reaktionen wie Schwitzen, schnelle Augenbewegungen
    Kampf: schreien, fuchteln, laute Stimme, Beleidigungen, treten, beißen, Selbstverletzung.
    Einfrieren: Atem anhalten, verstummen, nicht mehr zuhören, blass werden, Schwindel, ins Leere starren.

  • Upps, das kommt mir (fast) alles bekannt vor..... :o

    Interessantes neues Thema, danke @Illi, auch und besonders für die Übersetzung!

    Macht ist das Spielzeug der Reichen, das sie mit niemandem teilen (Muriel Barbery, "Die Eleganz des Igels")

  • Äh, ich meine, entweder habe ich es selber - vor allem als Kind - erlebt, oder meine Söhne haben solchermaßen erklärbares Verhalten gezeigt.
    Kinder neigen ja nicht unbedingt dazu, ihr Verhalten wortreich zu erläutern :irony:
    Jetzt kann ich's besser nachvollziehen. Andere haben sowas also auch.

    Macht ist das Spielzeug der Reichen, das sie mit niemandem teilen (Muriel Barbery, "Die Eleganz des Igels")

  • Jetzt kann ich's besser nachvollziehen.

    Geht mir auch so. Ich kann meinen Schwindel jetzt viel genauer ergründen. Mir wird tatsächlich schwindelig, wenn ich im 2. Stock oder höher bin, aber ich habe keine "Angst" vor der Höhe, mir wird einfach nur schwindelig.

  • Interessantes neues Thema, danke @Illi,

    Soweit stimme ich zu.

    auch und besonders für die Übersetzung!

    Eine "Übersetzung" ist es allerdings nicht. Eherr eine Zusammenfassung, ergänzt um eigene Überlegungen von @Illi, die der Originaltext keinesfalls hergibt.

    Unverständnis zwischen der autistischen und der nichtautistischen Wahrnehmung

    Der Originaltext macht deutlich, dass es die (eine einheitliche) autistische Wahrnehmung nicht gibt, von der alle Autisten betroffen wären:

    Many Autistic people process sensory information differently to their non-autistic peers.

    Durch das Unverständnis zwischen der autistischen und der nichtautistischen Wahrnehmung kommt es dann zu „Overloads“,die zu einer Fight/Flight/Freeze-Reaktion führen.

    Der Originaltext wirbt zwar bei nichtautistischen Eltern für Verständnis für solche fight/flight/freeze-Reaktionen, sieht sie aber als direkte Folge der Unterschiede bei der Reizverarbeitung und nicht des Unverständnisses.

    Ich weiß nicht, ob es besser wird, wenn es anders wird. Aber es muss anders werden, wenn es besser werden soll. (Georg Christoph Lichtenberg)
    Veränderungen führen deutlich öfter zu Einsichten, als dass Einsichten zu Veränderungen führen. (Milton H. Erickson)
    Morgen werde ich mich ändern, gestern wollte ich es heute schon. (Christine Busta)

  • Der Originaltext macht deutlich, dass es die (eine einheitliche) autistische Wahrnehmung nicht gibt, von der alle Autisten betroffen wären:

    Ein interessanter Artikel im aktuellen Heft (93) von "autismus Deutschland e. V. " spricht sogar von Neurodiversität bei allen Menschen. Somit gäbe es strenggenommen keine "NTs".

    Macht ist das Spielzeug der Reichen, das sie mit niemandem teilen (Muriel Barbery, "Die Eleganz des Igels")

  • Der Originaltext wirbt zwar bei nichtautistischen Eltern für Verständnis für solche fight/flight/freeze-Reaktionen, sieht sie aber als direkte Folge der Unterschiede bei der Reizverarbeitung und nicht des Unverständnisses.

    ja, das habe ich falsch zusammengefasst. Die Fight/flight/freeze-Reaktion ist die Folge des "Overloads". Die autistische Person sollte sich früher aus der sensorischen Überforderung zurückziehen. Oft ist das ihr aber nicht möglich, weil sie z.B. in der Schule oder in der Arbeit oder in einer Wohngruppe ist. Dann hätten die Bezugspersonen, in dieser Broschüre die Eltern, die Verantwortung, die Situation rechtzeitig zu verlassen.
    Nicht die Unterschiede bei der Reizverarbeitung an sich sorgen für den Overload, sondern das nicht autist:innengerechte Umfeld, bzw. die fehlende Rückzugsmöglichkeit.

    Der Originaltext macht deutlich, dass es die (eine einheitliche) autistische Wahrnehmung nicht gibt, von der alle Autisten betroffen wären

    Es gibt nicht die eine, aber alle autistischen Wahrnehmungen sind anders als die einer großen Mehrheit. Ich habe es vergessen zu erwähnen, aber natürlich müssen nicht alle Wahrnehmungsbesonderheiten, die aufgelistet sind, auf alle Autist:innen zutreffen.

Jetzt mitmachen!

Sie haben noch kein Benutzerkonto auf unserer Seite? Registrieren Sie sich kostenlos und nehmen Sie an unserer Community teil!