Autistischer durch Diagnose oder einfach nur veränderte Wahrnehmung der eigenen Befindlichkeit

  • Heute hatte ich in der Kantine der TK eine Situation, welche mich wieder an meine Grenzen gebracht hat. "Mein Platz", war besetzt, es war sehr voll und ein lautes Gemurmel. Ich habe mir dann meine Kopfhörer eingestöpselt, mein Essen ganz schnell verschlungen und dann die Flucht ergriffen. Den Morgen hatte ich damit verbracht, andere Patienten "aufzuklären", egal zu welchem Thema :oops: . Meine Selbstwahrnehmung war, heute kann mich nichts belasten. Die Sache ist, dass mich derartige Situationen, wie in der Kantine, schon immer gestresst haben, aber ich noch nie in dieser Form darauf reagiert habe. Sonst habe ich diese Stressmomente nach aussen verlagert, soll heißen, die anderen sind schlimm und gehen mir furchtbar auf die Nerven, hat aber nichts mit mir zu tun, höchstens, dass ich einen nicht so guten Tag habe. Gestern hegte ich noch die Hoffnung, dass ich mit der Diagnose, einen besseren Umgang mit meiner Entwicklungsstörung finde und ich größere Belastungen besser aushalten kann. Heute überwiegt das Gefühl, dass der Autismus ausgeprägter ist, als vor der Diagnose. Alte Kompensationsmechanismen greifen nicht mehr. Daraus ergibt sich für mich, die im Titel dieses Thread gestellte Frage. Ich hatte ja auch den infantilen Gedanken, dass durch die neue Medikation, meine Störung zum größten Teil weg gehen würde. Derzeit drehe ich mich nur um mich selbst (RW), was mir fürchterlich auf die Nerven geht. Kognitiv ist mir inzwischen bewußt, dass die Diagnose hilfreich sein wird. Mein Leben lang habe ich mich gefragt, was nicht mit mir stimmt oder falsch ist. Jetzt habe ich eine Antwort und tue mich doch so schwer damit, vor allem auf der emotionalen Ebene. Habt ihr eine Idee, wie man diesen Prozess, für sich einfacher gestalten kann?

  • Wie lang hast du die Diagnose? Ich kenne das exakt so. Habe auch oft schon solche Beschreibungen gelesen. Das ist nicht unüblich.

    Ich denke, dass man nun Dinge registriert die man vorher übergangen hat. Und das ist anstrengend, vor allem wenn man sich noch nicht dran gewöhnt hat. Ich fands auch absurd, dass in dem ersten therapieversuch den ich gemacht habe, der Fokus immer und immer wieder darauf gelenkt wurde, wie ich mich fühle, um dann wieder gesagt zu bekommen, dass ich diese Gefühle nicht so ernst nehmen dürfe. Ich hab mich da regelrecht verarscht gefühlt, erst wird mein Leben schwerer durch Aufmerksamkeit für Überforderung, und dann soll ich mich nicht so anstellen? Warum zur Hölle haben die mich dann überhaupt erst drauf aufmerksam gemacht, vorher hab ich besser funktioniert.

    Ich denke aber, dass mit der schlechteren Funktionalität auch ein gewisser Selbstschutz einher geht. Für mich ist es so. Ich bin vorher so dermaßen über mich und meine Befindlichkeit hinweg getrampelt, das ist ja faktisch nicht gut gegangen, und es ist auch nicht erstrebenswert. Mit verminderter Funktionalität musst du wahrscheinlich eine Weile leben, bis du Strategien erlernt hast, wie du damit umgehen kannst. Und ich schätze bei mir wird es nie wieder wie vorher. Ohne dir Angst machen zu wollen. Einfacher macht es das ganze, wenn du es akzeptierst. Beobachte dich und akzeptiere, was passiert. Dann lernst du dich neu kennen, und kannst darauf dann neu aufbauen und später auch wieder mehr von dir verlangen.

  • Derzeit drehe ich mich nur um mich selbst (RW), was mir fürchterlich auf die Nerven geht. Kognitiv ist mir inzwischen bewußt, dass die Diagnose hilfreich sein wird. Mein Leben lang habe ich mich gefragt, was nicht mit mir stimmt oder falsch ist. Jetzt habe ich eine Antwort und tue mich doch so schwer damit, vor allem auf der emotionalen Ebene. Habt ihr eine Idee, wie man diesen Prozess, für sich einfacher gestalten kann?

    Ich hab keine Idee, da ich das auch durchgemacht habe und kein Gegenmittel fand. :)

    Anscheinend kommt es öfter vor, dass man nach der Diagnose seine Schwierigkeiten deutlicher wahrnimmt. Wahrscheinlich weil man mehr darauf achtet. Es ist der Beginn des Prozesses, wo man alles im Leben überprüft auf die Frage hin, ob das was mit Autismus zu tun hat oder nicht, und wie man das einzuordnen hat. Der Prozess kann ziemlich lange dauern. Wahrscheinlich umso mehr, je reflektierter man ist. Wenn man also dazu neigt, sowieso viel zu hinterfragen, dann eben auch hier.

    Meine Vermutung ist, dass am Ende die Akzeptanz steht, wenn man irgendwann mal soweit fertig ist mit einordnen. Und dann weiß man, dass man eben von bestimmten Dingen genervt ist, kann aber auch einschätzen, wie viel man aushalten kann und ab wann es wirklich zu viel ist. Dann wird das wahrscheinlich auch alles wieder besser.

    Ich weiß jedenfalls noch, dass ich erstmals nach der Diagnose bewusst wahrgenommen habe, wie sehr mich dauerblinkende Autos vor roten Ampeln nerven, und das ist heute immer noch so. Aber jetzt regt es mich nicht mehr ganz so auf. Vielleicht halb so viel.

    Historisch gesehen waren die schrecklichsten Dinge wie Krieg, Genozid oder Sklaverei nicht das Ergebnis von Ungehorsam, sondern von Gehorsam.
    (Howard Zinn)

  • Die Diagnose habe ich Anfang Oktober erhalten, der Verdacht (den andere hatten, nicht ich) seit 1,5 Jahren. Kognitiv habe ich es akzeptiert, haben will ich es trotzdem nicht :cry: .

  • Sonst habe ich diese Stressmomente nach aussen verlagert, soll heißen, die anderen sind schlimm und gehen mir furchtbar auf die Nerven, hat aber nichts mit mir zu tun, höchstens, dass ich einen nicht so guten Tag habe.

    Daran hat sich aber nichts geändert. Die könnten nämlich auch genauso gut die Klappe halten, anstatt beim Essen zu plappern. Ist einfach nur ne Frage der Rücksichtnahme und fehlende Rücksichtnahme geht so ziemlich jedem Menschen auf die Nerven, der Grad ist bloß unterschiedlich.

    Alte Kompensationsmechanismen greifen nicht mehr.

    Deine alte Kompensation bestand sicher zu großen Teilen darin, dich selbst zu übergehen, was zu einem großen Teil zu deinem aktuell bestehenden psychischen Komorbiditäten beigetragen haben wird.
    Mit bewußterer Wahrnehmung deiner Selbst kannst du nun gesündere Kompensationsstrategien entwickeln.

  • Ich hatte gelesen, dass es vielen so geht, und gehofft, dass es mich nicht trifft. Aber tatsächlich, je weiter ich mich mit mir selbst und meiner Wahrnehmung beschäftige, desto besser kann ich auch kleinere Stressfaktoren erkennen. Aber damit reagiere ich dann halt auch früher bzw. stärker. Hinzu kommt dann, dass die ganze Beschäftigung mit mir und meiner Vergangenheit natürlich zusätzlichen Stress bedeutet.
    Auf der anderen Seite hat sich aber der Stress durch einige Ängste, schlagartig deutlich reduziert, in dem Moment, wo sie mir bewusst wurden. Sie sind deshalb nicht weg, aber ich nehme sie nicht mehr so ernst und es gibt nicht mehr dieses belastende, diffuse Angstgefühl. :)

  • Deine alte Kompensation bestand sicher zu großen Teilen darin, dich selbst zu übergehen, was zu einem großen Teil zu deinem aktuell bestehenden psychischen Komorbiditäten beigetragen haben wird.Mit bewußterer Wahrnehmung deiner Selbst kannst du nun gesündere Kompensationsstrategien entwickeln.

    Vielleicht hilft es, diesen Zustand als "Erstverschlimmerung" zu sehen? Du merkst jetzt direkt und bewusst, was dich anstrengt und dir etwas ausmacht. Damit hast du überhaupt die Chance gezielt etwas zu ändern.

    Moderatorenbeiträge sind an der grünen und fetten Schrift erkennbar! Alles andere stellt meine persönliche Meinung als Forennutzerin dar.

  • Heute überwiegt das Gefühl, dass der Autismus ausgeprägter ist, als vor der Diagnose. Alte Kompensationsmechanismen greifen nicht mehr.


    Ich würde das schon für normal oder eine logische Folge halten. Vor der bzw. ohne Diagnose kann das maskieren/verstellen/abmühen/Anpassungsversuche/etc. stärker gewesen sein. Die Diagnose könnte zu mehr Selbstakzeptanz führen, dass man deshalb auch nicht mehr so viel kompensieren/maskieren braucht. Weil man weiß warum man so ist wie man ist. Was vielleicht auch unterbewusst dazu führen kann, dass man sich weniger verstellt und weniger kämpft.

    Bei mir war es so, dass ich seit der Diagnose zunehmend den Eindruck hatte dass meine vor der Diagnose jahrelang selbstverständlichen Fähigkeiten und Mechanismen nachlassen würden. Das passierte aber ganz von selbst, ohne dass ich das so wollte. Was ich mir so erkläre, dass ich seit oder mit der Diagnose mehr ich selbst bin und dadurch automatisch weniger kompensieren/maskieren muss. Weil es eben nicht mehr darum geht irgendwie Hauptsache möglichst normal sein/wirken zu müssen und mit neurotypischen mithalten zu können. Sondern weil ich mir durch die Diagnose erlaubte so zu sein wie ich bin. Und ich denke, dass damit automatisch manche Kompensationen, oder Abmühungen, nicht mehr gebraucht wurden.

    Die Diagnose ist ja in gewisser Weise eine Veränderung, es ändert sich auch das Verständnis und der Blick auf einen selbst. Vielleicht verändern sich in dem Zusammenhang dann auch die Mechanismen zum kompensieren. Dass durch die Diagnose deine alten Mechanismen von vor der Diagnose nicht mehr passen, und du in der Zeit der Veränderung jetzt erstmal ohne neue Mechanismen bist, bis sich was neues passendes eingewöhnt hat.

  • Stimme den anderen hier zu. Ich erlebe das gerade ähnlich wie du. Seit meinem Verdacht (bin bisher ohne Diagnose) ist mir viel bewusster, wie ich bin, wie anders ich mich in vielen Situationen verhalte, was mich triggert oder einfach brutal nervt im Alltag. Das hab ich früher massiv unterdrückt ohne groß wahrzunehmen, woher der Stress kommt. Ich war oft nur fertig und konnte nicht sagen warum. Jetzt kenne ich die Auslöser (und werde besser darin, diese zu erkennen). Ich unterdrücke weniger, ich denke, das kommt automatisch, weil das Erleben in der Situation bewusster ist. Ich kann jetzt sagen "dieser Laden ist mir zu laut, ich will hier raus".
    Lustigerweise höre ich gerade von Außenstehenden des Öfteren, dass ich schneller gereizt und dann distanziert wäre. Ich gehe manche Themen auch offensiver an. Ob es sich für mich gerade besser anfühlt... nicht wirklich. Vielleicht kommt das noch. Ich hoffe :d

    "The universe is under no obligation to make sense to you" :prof: Neil DeGrasse Tyson

  • Habe heute schriftlich meine zweite Diagnose bekommen: F 90.0

    Gegooglet, weil ich mir nichts drunter vorstellen konnte, und der erste Link besagt, dass sich das mit den F84er-Diagnosen ausschließt. :?

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  • @Back Ich hatte "F90.-" jetzt als Oberbegriff gesehen und vermutet, dass der Ausschluss für die Unterkategorie F90.0 auch gilt.

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  • Das sind veraltete Ansichten, die du da gefunden hast.

    Ja, das Grundgerüst der ICD-10 wurde 1992 abgeschlossen.

    Im DSM-5 (2013) gibt es diesen Ausschluss schon nicht mehr und auch in der ICD-11 hat es sich verändert - den Erkenntnissen angepasst.

    "Auf der Metaebene lässt sich Abstand gewinnen zum Geschehen. [...] Und dabei zeigt sich, dass es andere Perspektiven, andere Erlebensweisen und viel mehr Möglichkeiten für Lösungen gibt, als sich der Mensch in seiner alten kleinen Welt hatte träumen lassen." (Brit Wilczek)

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