Welche grundsätzlichen Auswirkungen hätte das 'Empowerment-Konzept' auf Menschen im Autismus-Spektrum?

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    Hallo Aspies-Forum,

    heute mal eine offene Frage, an alle die Ihre Eindrücke (Erfahrungen?) zu 'Empowerment' teilen und mitteilen wollen. Der 'Empowerment-Ansatz' könnte ein guter Tipp und Hinweis für alle sein, die Ihre Lebenssituation im Autismus-Spektrum positiv weiterentwickeln wollen.


    Zitat und Grund-Aussage aus 'de.wikipedia.org'

    Auszug:


    " (...) Mit Empowerment (von engl. empowerment = Ermächtigung, Übertragung von Verantwortung) bezeichnet man Strategien und Maßnahmen, die den Grad an Autonomie und Selbstbestimmung im Leben von Menschen oder Gemeinschaften erhöhen sollen und es ihnen ermöglichen, ihre Interessen (wieder) eigenmächtig, selbstverantwortlich und selbstbestimmt zu vertreten. Empowerment bezeichnet dabei sowohl den Prozess der Selbstbemächtigung als auch die professionelle Unterstützung der Menschen, ihr Gefühl der Macht- und Einflusslosigkeit (powerlessness) zu überwinden und ihre Gestaltungsspielräume und Ressourcen wahrzunehmen und zu nutzen. ...

    Empowerment ist die Förderung der Fähigkeit für selbständiges / selbstbestimmtes Handeln (Ressourcenförderung, Motivation, Partizipation) ... (...)."


    Gruß,
    Descartes

    4 Mal editiert, zuletzt von Descartes (8. März 2015 um 12:55)

  • Das 'Empowerment-Konzept' halte ich bei Menschen im Autismus-Spektrum für: 14

    1. 'vielversprechend' ... vernünftig, zweckmässig, geeignet, lohnenswert, indiziert, zielführend, sinnvoll etc. (13) 93%
    2. 'aussichtslos' ... ausgeschlossen, überflüssig, in­ef­fi­z­ent, sinnlos, undurchführbar, vergeblich, zwecklos etc. (1) 7%

    Da diese Umfrage offen gehalten, aber nicht unendlich viele Antworten vorgeben möchte, gibt es nur 2 mögliche Optionen. Je nach Votum, könnt Ihr selbstverständlich gern eines der genannten (oder auch eigene) Adjektive für eine zusätzliche Kommentierung im Sachbezug nutzen.

    Gefragt sind alle Menschen die sich selbst zu dem Autismus-Spektrum zugehörig fühlen.

    Gruß,

    Descartes

  • In einem aktuellen Flyer des Kohlhammer-Verlags habe ich zufällig gerade das hier gesehen:
    Autismus - Neues Denken - Empowerment - Best-Practice
    Scheint also auch von Fachleuten angedacht zu werden.

    Ich denke zur Zeit, ohne das Buch gelesen zu haben, das sogenannte Empowerment (gräßliches Wort) dürfte von zentraler Bedeutung für hochfunktionale (!) Autisten sein.
    Knapp zusammengefasst: raus aus der Opferhaltung/der Bedürftigkeit, ohne die tatsächlichen Probleme zu negieren oder kleinzureden.
    Erst dann kann man seine Anliegen und Bedürfnisse selbstbewusst genug vertreten, ohne sich in kraftraubende Kämpfe oder lästige Kabbeleien zu verstricken.
    Kann meiner Erfahrung nach überraschend konstruktiv sein.

  • Ich habe das Buch gelesen und kann es empfehlen.

    Ich denke aber, und das wird auch im Buch angesprochen, dass Empowerment nicht nur für hochfunktionale Autisten wichtig und sinnvoll ist, sondern gerade auch für die als niedrigfunktional gelabelten Autisten. Die bleiben nämlich fast immer unbeachtet, weil ihnen niemand zutraut, für sich selbst einzutreten und eigene Entscheidungen zu treffen. Dabei können die das genauso wie alle anderen auch - man muss ihnen nur die Möglichkeit dazu geben. Genau das meint ja Empowerment.

    ~always a stranger in a crowd~

  • Interessant.
    Ich verstehe unter „Empowerment“ ein Konzept der radikalen Annahme von Eigenverantwortung, dem ich erstmals innerhalb der Thematik Misshandlung und Entwertung begegnet bin.
    (Meines Erachtens) haben nicht wenige Asperger mit Misshandlung und Entwertung prägnante Erfahrungen gemacht, die sich auch lange nach Ende dieser Situationen in einem anhaltenden „Gefühl der Macht- und Einflusslosigkeit“, wie von Descartes zitiert, im eigenen Leben niederschlagen.
    Deswegen kann ich mir vorstellen, dass es ein gangbarer Weg für diese Personengruppe sein könnte.

    Diese ausnahmslose Übernahme von Eigenverantwortung sehe ich bei Menschen mit gravierenderen Funktionseinschränkungen, verringerter Reflexionsfähigkeit oder auch Intelligenzminderung als schwierig an. Vielleicht sogar teilweise als überfordernd.
    Hinzu kommt eine Hilfsbedürftigkeit im Alltag, die ein derartiges Empowerment meinem Verständnis nach um ein Vielfaches erschweren dürfte. Was nicht heißt, dass ich es für prinzipiell falsch hielte – nur in meiner Vorstellung wesentlich schwieriger umzusetzen.
    So wie ich das sehe, ist bei Menschen mit erheblichem Betreuungsbedarf erst mal das Umfeld in der Bringschuld, was eine Notwendigkeit zum Empowerment im Idealfall überflüssig machen sollte.

    Aber das mir geläufige Konzept ist vielleicht ein spezifisches. Beispiele für andere Empowermentansätze würden mich interessieren.

  • -
    Hallo Seen,

    Beispiele für andere Empowermentansätze würden mich interessieren. ...

    im Sinne eines Empowerment-Verständnisses agieren, soweit mir bekannt in Deutschland bereits 2 zum Autismus-Spektrum zählende Interessengemeinschaften (Autismus Organisationen).

    Zu 'Autismus-Organisationen' ist im 'Handlexikon Autismus-Spektrum' etwas Entsprechendes zu finden:

    „(...) Unter Autismusorganisationen im Sinne einer allgemeinen Auffassung sind Gruppen und Zusammenschlüsse von Menschen zu verstehen, die sich mit dem Thema Autismus intensiv beschäftigen und deren Tätigkeitsschwerpunkt oftmals in der Aufklärungs-, Beratungs- und Informationsarbeit in der Öffentlichkeit zu sehen ist. Je nach Ausrichtung und Mitglieder- sowie Zielgruppenklientel ist mit Blick auf diverse Autismusorganisationen allerdings erkennbar, dass zum Teil sehr unterschiedliche und durchaus konträre Inhalte und Meinungen vertreten werden.

    ...

    (2) Selbstvertretungsgruppen, deren Existenz als Ausdruck eines zugrundeliegenden Empowerment-Verständnisses betrachtet werden darf und denen es in ihrer Arbeit vorwiegend darum geht, von der Gesellschaft als Autisten in ihrer Art des Sein akzeptiert sowie als Experten in den sie betreffenden Belangen respektiert und als gleichwertiger Partner in diesbezüglich gelagerten öffentlichen Debatten und politischen Entscheidungen anerkannt zu werden; als Beispiel sei hier auf die deutschen Gruppen → Aspies e. V. und → autWorker eG sowie auf das US-amerikanische → Autistic Self Advocacy Network (ASAN) hinzuweisen (...).“

    Quelle:

    Auszug aus: Handlexikon Autismus-Spektrum - Schlüsselbegriffe aus Forschung, Theorie, Praxis und Betroffenen-Sicht (Georg Theunissen - German Edition)


    Wer also in Deutschland im Sinne des Autismus-Spektrums Etwas bewirken möchte, sollte Vereins-Mitglied einer der o.g. Interessengemeinschaften werden.


    Gruß,
    Descartes

  • Ich kenne den Begriff aus meinem Studium im Zusammenhang mit Entwicklungshilfe.

    Schon damals hielt ich das für eine relative frei deutbare Worthülse. Wie soll E. für Autisten oder andere Behinderte konkret aussehen?

    anders anders

  • Wie schön, jetzt habe ich meinen Denkfehler gefunden.
    Ich meinte das sogenannte re-empowerment-Konzept.
    Meine Beiträge hierzu sind also hinfällig, um nicht zu sagen, meilenweit am Thema vorbei. Können auch gerne gelöscht werden.

  • Hallo underdog,

    ... Wie soll E. für Autisten oder andere Behinderte konkret aussehen? ...

    bei Menschen innerhalb des Autismus-Spektrums geht es im Zusammenhang mit dem Empowerment-Konzept um die Partizipation (Teilhabe) an einer allgemein "exklusiv" zu betrachtenden Gesellschaft, da diese im Grundsatz eine nicht-autistische Prägung aufweist.

    Die Veröffentlichung zu 'Empowerment' aus dem 'Handlexikon Autismus-Spektrum' beschreibt es folgendermaßen

    Zitat:

    "(...) Der Begriff »Empowerment« ist aus der US-amerikanischen Bürgerrechtsbewegung (civil rights movement) des Schwarzen Amerikas hervorgegangen und verweist auf Selbstverfügungskräfte, Wiedergewinnung und Mobilisierung von Stärken, Selbstbefähigung, Selbstbemächtigung, Selbstvertretung und politische Einflussnahme. Des Weiteren gibt es historische Bezüge zur lateinamerikanischen Befreiungstheologie und Pädagogik sozial-benachteiligter Bevölkerungsgruppen sowie zum Menschenbild der humanistischen Psychologie, die allesamt wesentlich zur Entwicklung des heute in der Heilpädagogik (→ Rehabilitationspädagogik) und Sozialen Arbeit verbreiteten Empowerment-Konzepts beigetragen haben (vgl. dazu Herriger 2010; Theunissen 2013).

    Grundlegend für dieses Konzept sind drei Bezugswerte, (1) → Selbstbestimmung, (2) demokratische Partizipation (Mitbestimmung) durch Betroffenen-Beteiligung und (3) Verteilungsgerechtigkeit, die mit dem emanzipatorischen Ansatz der kritisch-konstruktiven Erziehungs- und Bildungswissenschaft korrespondieren und eine Differenzierung in ein »self-empowerment«, »political empowerment« und »supported empowerment« ermöglichen (ausführlich dazu Theunissen 2013).

    Vor diesem Hintergrund findet heute Empowerment als der wohl wichtigste Wegweiser moderner Behindertenarbeit in führenden westlichen Industrienationen viel Zuspruch. Ebenso haben die Vereinten Nationen mit ihrer → Behindertenrechtskonvention darauf reagiert, die – so der Menschenrechtsexperte Bielefeldt (2006, 1) – ganz dem Empowerment dient. Allerdings ist Empowerment mittlerweile vielerorts zu einem Modebegriff avanciert, der in der Gefahr steht, von neoliberalen Strömungen instrumentalisiert zu werden und zur Ideologie zu gerinnen (vgl. Theunissen 2013, 55 ff.). Um Fehlentwicklungen in der Behindertenarbeit zu vermeiden, ist daher der Bezug auf seine Entstehungsgeschichte wichtig, der unschwer zu entnehmen ist, dass Empowerment im ursprünglichen Sinne buchstabiert ein gesellschaftskritisches Korrektiv zur Gewinnung von mehr Menschlichkeit und sozialer Gerechtigkeit darstellt.

    Daran anknüpfend begegnen wir heute in der Behindertenarbeit vier Empowerment-Bewegungen, (1) einer Eltern-Bewegung von Kindern mit → developmental disabilities (einschl. Autismus), die sich in den USA unter dem Dach der TASH-Organisation für → »full inclusion« engagiert, (2) einer Bewegung von Menschen mit Körper- oder Sinnesbehinderungen (independent living movement), welche mit Zentren für ein selbstbestimmtes Leben, peer counseling und peer support imponiert und als Expertenstimme in eigener Sache Kompetenzen (Zuständigkeiten, Regie, Nutzerkontrolle) einfordert, (3) einer Bewegung von Menschen mit Lernschwierigkeiten (People First), die sich vor allem für mehr Selbstbestimmung, Teilhabemöglichkeiten, Leichte Sprache und Abschaffung diskriminierender Fachbegriffe einsetzt und (4) eine Rechte-Bewegung autistischer Menschen (autism rights movement), der es insbesondere um eine Überwindung der traditionellen Vorstellungen über Autismus als pathologisches Phänomen und um ein neues Denken in Bezug auf Autismus als eine Form menschlichen Seins zu tun ist (vgl. Theunissen & Paetz 2011).

    Diese kollektive Form der Selbstvertretung autistischer Personen kann für einen Paradigmenwechsel in der Autismusforschung wichtige Argumente liefern (→ partizipative Forschung). Darüber hinaus gibt es viele »Einzelkämpfer«, zum Beispiel T. Grandin, N. Schuster, P. Schmidt oder D. Zöller, um nur einige der bekannten Persönlichkeiten zu nennen, die gleichfalls als Experten in eigener Sache zu einem neuen Autismus-Bild wesentlich beitragen, wie es sich Betroffene, unterstützt durch aufgeschlossene Autismusforscher und Fachleute, wünschen.

    Dabei darf jedoch nicht verkannt werden, dass es autistische Personen gibt, die sich nicht als »empowered persons« vertreten oder engagieren können, jedoch ebenso wie alle anderen Stärken haben und mit Ressourcen imponieren können, die es wertzuschätzen und im Sinne von Empowerment zu unterstützten gilt (...).“

    Quelle

    Auszug aus: Handlexikon Autismus-Spektrum - Schlüsselbegriffe aus Forschung, Theorie, Praxis und Betroffenen-Sicht (Georg Theunissen - German Edition)

    Im Zusammenhang mit dem Autismus-Spektrum bietet der Perspektivenwechsel von einer allgemeinen, nicht-autistisch-wahrgenommenen und defizitorientierten Sichtweise hin zu einer spezifischen, autistisch-wahrgenommenen und stärkeorientierten Sichtweise erst die Möglichkeit auf Teilhabe. Dadurch ist es der erste und essentiell wichtigste Schritt zur Inklusion der Autisten in die nicht-autistisch geprägte Gesellschaft.

    Eine allgemeine Würdigung von autistischen Wahrnehmungen kann nur auf diese Art und Weise gelingen.

    * Im Ergebnis können individuelle Bedürfnisse besser registriert und somit auch effektiver berücksichtigt werden.

    Gruß,

    Descartes

    7 Mal editiert, zuletzt von Hyperakusis (25. März 2015 um 14:43) aus folgendem Grund: a) Auf Wunsch des Autors geändert. b) Auf Standardschriftgrösse geändert. Siehe dazu 4.1. in den Forenregeln.

  • Hallo Descartes,

    danke für die umfangreiche Antwort.

    Grundlegend für dieses Konzept sind drei Bezugswerte, (1) → Selbstbestimmung, (2) demokratische Partizipation (Mitbestimmung) durch Betroffenen-Beteiligung und (3) Verteilungsgerechtigkeit

    Das sind hehre Ziele. Das sollte in einer Solidargemeinschaft allerdings nicht auf Behinderte beschränkt sein. Die Frage ist, ob sich die Gesellschaft nicht als Ganzes diesen Zielen verschreiben muss. Sonst endet es wieder damit, dass neue administraive Strukturen und Tägergesellschaften sich an den Töpfen laben, die eigentlich den Betroffenen gewidmet sind.

    anders anders

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