Gesetzlicher Feiertag. Laute Nachbarschaft – Kindergeschrei und -gepolter nebenan wie jeden Tag; im Haus gegenüber gehen ungeniert Bauarbeiten weiter. Ich bin gestresst. Die Geräusche dringen mühelos durch Wände und Fenster und passieren sowohl das braune Rauschen aus meinen Lautsprechern als auch meine Gehörschutz-Ohrstöpsel. Entspannungsversuche mittels Fidget-Wheel [monotones Spielzeug für die Hände] bringen wenig.
Ich rufe das Aspie-Forum auf, bei dem ich seit ein paar Tagen registriert bin. Einen Eintrag über „Auting“ [nette Amalgamierung aus Outing und Autismus] gegenüber den Eltern gelesen. Der Umgang miteinander erscheint wohlwollend. Die scheinen alle etwas jünger als ich, wähnen sich „alt“ und sind doch weiter als ich – nicht nur was die Diagnose und die damit verbundene Sicherheit des eigenen Stands angeht.
Das Telefon klingelt unvermittelt. Wieder ein Einschuss an Adrenalin und Cortisol innerhalb von Millisekunden. Auf dem Display steht dankenswerterweise die Nummer der Anruferin: es ist Sonja. Ich drücke auf „annehmen“ und setze mir das Headset auf.
Ich: „Hallo, Epi hier. Hallo Sonja. Schön, dass du anrufst. Wie geht’s dir?“
Meine Stimmlage überrascht mich. Es klingt authentischer als gedacht.
Sonja: „Salut Epi! Och, bis auf’s Wetter ist alles sonnig [sie verwendet dieses Adjektiv gerne und referenziert eine phonetische Ähnlichkeit mit ihrem Vornamen]. Wollte mich melden und nochmal Danke sagen. Das Tablet [sie meint eigentlich Laptop] funktioniert weiter zuverlässig. Was machst du heute so und wie geht’s dir?“
Ich: „Bin durch den Dauerlärm meiner dämlichen Nachbarn gestresst. Nebenan schreien und trampeln die Kinder und von draußen Baulärm – am Feiertag! Versuche was in einem Forum zu lesen, in welchem ich mich vor kurzen angemeldet habe. Meine Konzentration ist mies und ich werde ständig in meinen Gedanken gestört.“
Sonja: „Oje, das mit dem Lärm ist ja quasi der rote Faden in deinem Leben, oder? Hast du wieder Rauschen an und Kopfhörer auf?“
Ich: „Ja ja, hilft wenig.“
Sonja: „Und mal mit denen sprechen…?“
Ich: „… habe ich schon mehrfach versucht: das seien halt Kinder und man könne nichts machen. Das sei in älteren Mehrparteienhäusern halt so.“
Sonja: „Aber die Leute, die da schon seit Monaten im Nachbarhaus sonn- und feiertags bauen: sagt da keiner was?!“
Ich: „Nicht, dass ich wüsste. Und wenn ich die Polizei riefe, gäbe es in der Folge sicherlich wieder jahrelanges Mobbing. Das Asoziale, Laute, Stinkende etc. wird in unserer Gesellschaft toleriert und Menschen, die Ruhe, Frieden und das Einhalten von Gesetzen wollen werden indirekt bestraft!“
Sonja: „Du bist ja wieder geladen! Und deinen Boxsack nutzen? Ah, nee, würdest du am Feiertag aus Sorge andere zu stören ja nicht machen [lacht]. Lenkt dich dieses Forum denn ab? Was ist das denn diesmal? Wieder so eine nerdige IT Fachnische [warum schreibt sich Nische nicht mit Dehnungs-E???]?“
Ich seufze.
Ich: „Nein, das ist ein Forum für Menschen mit Asperger Syndrom, deren Angehörige und Helfer. Vor zwei Wochen hat Nadine [meine Freundin] einmal mehr darauf hingewiesen, dass ich mich sehr oft wie ein Autist verhalten würde. Diesmal war es nicht beiläufig im Nebensatz, sondern als eigene Kernaussage. Da habe ich dann im Internet recherchiert. Die Verdachtsmomente waren absurd stark, so dass ich an das „Medizinstudenten-Syndrom“ [vielen Studienanfängern wird nachgesagt, dass sie beim Lernen von Krankheitssymptomen zur Überzeugung gelangen die jeweilige Störung auch zu haben] dachte. Also habe ich Fachbücher quer gelesen und der Verdacht blieb. Habe versucht einen Termin in einer Spezial-Ambulanz für Asperger Autismus zu bekommen, aber die Wartezeit betrage ca. 18 Monate. Sie haben mir einen 4-teiligen Fragebogen zugeschickt. Unmittelbar nach Ausfüllen und Absenden überkam mich die Angst aus antrainierter sozialer Erwünschtheit die Symptome abgemildert zu haben, so dass ich nun fürchte nicht zur eigentlichen Diagnostik einbestellt zu werden. Und jetzt erlebe ich innere Anspannung durch den ambivalenten Zustand nicht zu wissen wo ich stehe… „
Sonja prustet lachend dazwischen: „Schroedingers Aspie!“
Ich: „… äh, ja, genau. Entschuldige, ich bin wieder dabei zu „ranten“ [engl. Lehnswort; ungehemmter monothematischer Redefluss, der vielen wie ein langweiliger Fachvortrag vorkommt]. Wo war ich? Was wolltest du sagen?“
Sonja: „Alles gut, kenne das ja von dir. Ehrlich gesagt bin ich nicht überrascht. Nicht, dass ich Profi wäre. Ähm [lacht], Moment, Scheiße: ich bin Profi [kichert mädchenhaft]. Aber bei Freunden habe ich die Fachbrille einfach nicht auf [sie ist Psychologin]. In der Ausbildung hatten wir zu Autismus und Asperger verdammt wenig. Kenne jetzt die Kriterien nicht auswendig aber ja, dem Verdacht würde ich an deiner Stelle auch nachgehen. Hey, deshalb auch deine Geräuschsensitivität! Also, was ist nun mit dem Forum? Ist das gut?“
Ich: „Ein Forum kann kaum gut oder schlecht sein. Einige Beiträge sind langweilig, andere anregend und einige wenige sogar richtig informativ. Aber ich traue mich nicht offen was zu schreiben. Im Kopf [also meinen zahllosen Tagträumen] steht mein Beitragszähler schon im dreistelligen Bereich und im real life bei 5.“
Sonja: „Beitragszähler? Was ist das denn? Warum traust du dich nicht? Alles mit Klarnamen?“
Ich: „Beitragszähler ist ein Counter, welcher die Anzahl der bereits geposteten Nachrichten unter dem jeweiligen Avatar angibt. Ich traue mich aus verschiedenen Gründen nicht: (1.) Ich weiß nicht wo ich stehe: bin ich ein Aspie und gehöre dazu oder bin ich keiner und bringe meine Probleme, Erlebniswelt und Ansichten da ein, obwohl ich da nichts zu suchen habe? (2.) Ich habe Angst vor Kritik und Zurückweisung. Habe seit ich denken kann das Gefühl ein Alien auf dem falschen Planeten zu sein. Wenn das nun „Menschen wie ich“ wären, so wären meine Hoffnung und Erwartung zwangsläufig überhöht. Entsprechend vulnerabel würde ich auf Kritik und Zurückweisung reagieren. (3.) Ich kann meine Fragen überhaupt nicht sinnvoll ordnen und sie sind vermutlich hoffnungslos naiv. Und vor dem Hintergrund womöglich am Ende doch kein Asperger-Autist zu sein traue ich mich nicht hundert Fragen zum Abgleich der Übereinstimmung da hin zu posten. (4.) Ich… .“
Sonja: „Halt, halt, nicht so flott. Sonst weiß ich gleich nicht mehr, was ich sagen wollte. Also: muss doch keiner wissen, dass du noch keine Diagnose hast. Ich würde… .“
Ich: „Man sollte da seinen Status angeben und ich habe das auch getan. VA gleich Verdachts-Autist.“
Sonja seufzt gespielt.
Sonja: „Natürlich hast du das. Sei’s drum. Ein Verdachts-Autist wird doch da genauso schreiben können wie die Aspies mit den höheren Weihen der Diagnose, oder?“
Ich: „Ja ja, aber die Punkte 2, 3 und die, die ich noch nicht genannt habe… .“
Sonja: „Epi, meinst du nicht, dass genau dieses Verhalten für deine „legitime“ Zugehörigkeit sprechen? Angst vor Zurückweisung hat fast jeder. Benimm dich, halte deine Erwartungen – auch dir selber gegenüber – in Schach und meide im Zweifel die peoples [sie meint Foren-Mitglieder], die eher destruktiv sind. Was war Punkt 3 nochmal?“
Ich: „Unstrukturierte Hundertschaft an naiven Fragen… .“
Sonja: „Ah ja, eigentlich würde ich die da im Forum so oder so erwarten. Listen und so. Gibt’s das da nicht? So Tabellen und Schema-Skizzen?“
Ich: „Bin ja noch nicht lange Mitglied und habe nur einen Bruchteil gelesen. Bisher habe ich nichts dergleichen gesehen.“
Sonja: „Das ist es doch schon: lass es langsam angehen! Hake dich hier und da in eine Konversation mit passendem Thema ein. Du musst das nicht so [sie betont Folgendes pikiert] effektiv und effizient wie möglich machen [sie lacht].“
Ich: „Ich strebe Klärung und Spannungsabbau an. Da ist es mit [ich imitiere den pikierten Tonfall] Geduld nicht so leicht.
Sonja lacht ausgiebig und scheint das Telefon kurz wegzuhalten.
Ich: „Du lachst mich nicht aus, oder?“
Sonja: „Quatsch! Deine nüchterne Art deine Gefühle zu beschreiben ist oft einfach genial. Ich hab’ Patienten, die arbeiten Jahre lang daran ihre Gefühle und Bedürfnisse ausdrücken zu lernen. Wenn die so weit wären wie du wäre viel erreicht.“
Ich: „Ja, vielleicht „darf“ ich das gar nicht können und bin demnach kein Asperger. Deshalb halt die Liste mit den Fragen… .“
Sonja mit etwas ernsterem Klang in der Stimme: „Das ist ein Spektrum und soweit ich weiß gibt es den Asperger-Autisten gar nicht. Vermutlich gibt’s in der Population [die imaginäre Gemeinschaft der Asperger im Forum ist gemeint] ähnlich große Unterschiede wie in der restlichen Bevölkerung. Und im Forum werden vermutlich überwiegend die fitteren unterwegs sein… „
Ich: „HFA nennen die das: hochfunktionaler Autismus.“
Sonja: „Klasse, es gibt da also eigene Abkürzungen und Szene-Begriffe. Was gibt’s sonst noch für eine Lingo [gemeint sind umgangssprachliche Ausdrücke in einer Subkultur]?“
Ich: „Ähm, ja, eben habe ich den Begriff „auting“ – mit a. u. geschrieben – kennengelernt. Also wenn ein Autist sich outet.“
Sonja: „Sehr schön.“
Ich: „Dann heißt die out-group [also alle nicht-Autisten] NT – neuro-typisch. Eine Anspielung auf die unterschiedliche neurologische Struktur der Autisten-Gehirne. Einige gebrauchen den Begriff als Deminuitiv… „
Sonja: „Und das heißt übersetzt…?“
Ich: „Herabsetzung. Es gibt sogar einige, die einen autistic-pride proklamieren und sich vehement gegen Pathologisierung, Therapie und so wehren. Analog zu gay-pride und black-is-beautiful. Du verstehst?“
Sonja: „Ja, finde ich persönlich jetzt etwas extrem aber ist ein nachvollziehbarer Standpunkt. If you can’t beat it – join it [sie drückt hier wahrscheinlich aus, dass hier aus der „Not eine Tugend“ gemacht wird]. Außerdem leiden viele vermutlich ähnlich wie du unter der Lautheit und dem Gestank anderer und da ist eine in-group-versus-out-group-Dynamik hilfreich.“
Ich: „Ja, das verstehe ich auch aber das Frustablassen und bashing [engl. Lehnsbegriff; jemanden oder etwas schlecht machen, um sich besser zu fühlen; vgl. Lästern] ist dieser Tage im Internet nicht gerne gesehen. Deshalb traue ich mich auch nicht ungefiltert meine Gefühle zu meinen Nachbarn und den vielen Vollidioten im Straßenverkehr zu teilen. Alles andere als blanker Hass wäre eine Lüge – und das darf nicht sein; Asperger und Frust mit womöglich ähnlich Betroffenen teilen hin oder her. Aber wieder einen Filter davor schalten ist eigentlich genau das, was ich eben nicht machen möchte. Das ist quasi ein Hauptanliegen, warum ich in diesem Forum bin!“
Sonja: „Das erscheint mir etwas zu sehr schwarz-weiß [sie meint, meine Äußerung sei zu dichotom, zu Extremen neigend und die Realität verfehlend]. Es kommt doch auch immer auf den Kontext an. Wenn du dazu aufrufst deine Nachbarn zu teeren und zu federn und die Leute aufstachelst, dann geht das natürlich nicht. Willst du aber dein Erleben in der Absicht schildern mit womöglich Gleichgesinnten einen Austausch zu machen, dann müsste das doch gehen. Solche Foren haben doch immer Regeln. Hast du die – natürlich hast du die gelesen.“
Ich: „Klar! Ähnlich wie in vielen anderen sozialen Foren plus ein paar Ergänzungen, was Triggern angeht und Betonung auf Respekt und Meinungsvielfalt.“
Sonja: „Ja, dann sollte das doch kein Problem sein. Leg’ los! Just do it!“
Sie klatscht in die Hände. Das wird laut in meine Kopfhörer übertragen.
Ich: „Das war laut. Bitte nicht machen.“
Sonja: „Oh, sorry. Sollte motivierend wirken und meine Begeisterung ausdrücken. Schau: an der Wartezeit bis zur vielleicht-Diagnose kannst du nichts ändern. Guck doch einfach, ob dir der Austausch da was gibt. Schlimmstenfalls steigst du aus, bestenfalls gewinnst du Kontakt zu Gleichgesinnten, mit denen du dich über Jahre austauschen kannst! Just do it!“
Ich: „Mmhhh… . Ja, vielleicht. Habe nur keine Idee, wie ich ansetzen soll.“
Kurze Pause. Sonja scheint eine Nachricht bekommen zu haben.
Sonja: „Wie wär’s, wenn du in Form von einem Dialog wie diesem von dir erzählst? Kannst ja frei von diesem Gespräch schreiben und Parts weglassen. Du kannst mir auch Körbchengröße D und die glockenklare Stimme der Weisheit andichten [das soll ein flapsiger Scherz sein, über den sie zumindest selbst lacht].“
Ich: „Vielleicht keine schlechte Idee. Mal schauen.“