Geistesverwandtschaften

  • Ich hatte heute einen Gedanken, der mich eine Weile beschäftigt hat. Es geht um das Gefühl von Verbundenheit mit Menschen, denen man in der realen Welt nie begegnet ist, die nicht zur Familie oder zum Kreis von Freunden und Bekannten gehören. Solche Menschen leben in anderen Ländern und/oder in anderen Zeiten. Ich kenne solche Menschen nur durch ihre Werke (Schriften, Filme) und ich habe dabei das Gefühl, sie besser zu kennen und mit ihnen in tieferer Verbundenheit zu stehen als mit manchen Verwandten. Es sind, wie man auch sagt, Geistesverwandte oder auch Vorbilder und Helden aus der Kindheit. Die Verbundenheit, von der ich spreche, ist natürlich einseitig. Als ein solcher Mensch gestorben war (Carlo Pedersoli vor fünf Jahren), spürte ich eine intensivere Trauer als beim Tod meiner eigenen Großmutter im selben Jahr. Als mir das bewusst wurde, war ich schockiert. Wie kann so etwas sein?

  • Ich möchte noch etwas ergänzen, was das oben geschilderte Beispiel verdeutlicht. Den Tod meiner Großmutter hatte ich - genau gesehen - nur zur Kenntnis genommen. Sie war halt weg. Natürlich gingen mir dabei ein paar Erinnerungen durch den Kopf, aber keine Trauer. Ich könnte das Gefühl der Trauer auch nicht in Abstufungen einschätzen (z.B. von 0 bis 10). Bei der Großmutter 0, bei Pedersoli 10. Dazwischen nichts.

    Als Mensch sollte man doch beim Tod seiner Großmutter traurig sein, wenn sie eine gewöhnliche Großmutter war, also kein irgendwie schlechter Mensch. Gut. Als Drei- oder Vierjähriger musste ich einen Gute-Nacht-Kuss abwehren und hatte ihr im Affekt eine Ohrfeige verpasst. Das habe ich zwar in Erinnerung, es ist aber nichts, was so lange nachwirkt.

    Und der Tod eines Schauspielers, der einen Kindheitshelden verkörpert hat, erzeugt bei mir das Gefühl, das ich haben sollte, wenn jemand aus der Familie stirbt.

    Habe ich mit Personen, denen ich nie persönlich begegnet bin, allein durch Medien, eine so enge Verbundenheit entwickelt, weil ich nicht in der Lage war mit den Menschen in meiner unmittelbaren Umgebung eine solche Verbindung herzustellen?

  • Das mit der tiefen Verbundenheit, gut kennen, das ist bei mir eher nicht so. Ich war oder bin Fan von bestimmten Personen (gewesen), ohne aber das Gefühl zu haben, sehr viel über sie zu wissen. Trotzdem hatten sie eine große Bedeutung und waren mir wichtig.
    Dass ich mehr Trauer empfunden habe bei ihrem Tod als beim Tod naher Angehöriger, das habe ich auch erlebt.
    So richtig verstehen kann ich das aber auch nicht.
    Vielleicht kann man die Gefühle bei "Fremden" besser zulassen, was aber dann wieder die Frage aufwirft, wie viele Gefühle man wohl im Alltag im Umgang mit Angehörigen nicht zulässt und somit gar nichts von ihnen weiß.
    Vielleicht gibt es aber auch eine andere Erklärung.

    Historisch gesehen waren die schrecklichsten Dinge wie Krieg, Genozid oder Sklaverei nicht das Ergebnis von Ungehorsam, sondern von Gehorsam.
    (Howard Zinn)

  • Und der Tod eines Schauspielers, der einen Kindheitshelden verkörpert hat, erzeugt bei mir das Gefühl, das ich haben sollte, wenn jemand aus der Familie stirbt.

    Gefühle sind ja erstmal nicht falsch oder richtig, sie sind einfach da. Deine Erfahrung mit Bud Spencer zeigt ja auf jeden Fall, dass du zu tiefergehenden Emotionen fähig bist.

    Aus der eigenen Erfahrung denke ich, dass einen Todesfälle mehr mitnehmen, wenn sie in jungem Alter passieren und sich nicht ankündigen, als wenn jemand älter ist und vielleicht vorher schon lange krank war. Vielleicht konntest du dich bei deiner Großmutter schon vorher innerlich darauf vorbereiten?

    Heute war ja die Beisetzung von Prinz Philip. Sein Tod mit 99 Jahren hat viel weniger mediale Aufmerksamkeit bekommen als vor 24 Jahren der Tod von Lady Di, die ja damals erst Ende 30 war. Lady Di ist ja auch ein gutes Beispiel, an dem man sieht, dass Menschen, die in der Öffentlichkeit stehen, bei anderen, die mit ihnen eigentlich gar nichts zu tun haben, große Emotionen hervorrufen können.

    Bud Spencer ist natürlich auch nicht gerade jung gestorben, aber vielleicht hat da deine starke Identifikation mit seinen Filmen den Ausschlag gegeben.

  • Dass ich mehr Trauer empfunden habe bei ihrem Tod als beim Tod naher Angehöriger, das habe ich auch erlebt.
    So richtig verstehen kann ich das aber auch nicht.
    Vielleicht kann man die Gefühle bei "Fremden" besser zulassen, was aber dann wieder die Frage aufwirft, wie viele Gefühle man wohl im Alltag im Umgang mit Angehörigen nicht zulässt und somit gar nichts von ihnen weiß.

    Ich versuche, seit ich mich mit dem Asperger-Syndrom beschäftige, zu verstehen wie ich ticke. Ein Zwischenfazit ist (auch irgendwie nur eine These), dass ich andere Menschen erst dann nachvollziehen kann, wenn ich ausreichend Informationen von ihnen erhalten habe. Ich kann ihr Innenleben und Empfinden offenbar nicht intuitiv erfassen. Das ist auch für meinen Beruf wichtig. Ich brauche Input, verarbeite ihn, verstehe, empfinde nach und kann angemessen reagieren. Passiert das aber häufig bzw. werden häufig persönliche Probleme irgendwelcher Art an mich herangetragen, wird es mir zu viel, weil ich bestrebt bin allen zu helfen. Das "geistert" mir dann alles im Kopf herum und ich nehme es mit nach Hause (und kann schlimmstenfalls nicht richtig schlafen). Ich hatte unter anderem deswegen vor einiger Zeit abgelehnt, eine Beratungslehrerausbildung zu machen.

    Wenn ich mich mit Philosophie beschäftige, dann finde ich den Zugang in der Regel über die Person des Philosophen (biographisch), lese seine Werke und dann passiert genau das: Ich habe Input, den ich intensiv verarbeite, nachvollziehe und auf mein Leben anwende. Und schon identifiziere ich mich mit ihm und übertrage passende Gedanken, Maxime, Prinzipien auf mich. Ich trete in einen gedanklichen Austausch. Das meine ich mit Geistesverwandtschaft.

    Von meiner Großmutter gibt es keine Autobiographie und keine tiefschürfenden Gedanken. Sie war halt nur die Oma, die sich verhielt, wie Omas das eben tun. Das, was ich über Jahrzehnte von ihrem Wesen, von ihrer Persönlichkeit aufgenommen und verarbeitet hatte, reichte nicht aus um bei ihrem Tod Trauer zu empfinden.

    Deine Erfahrung mit Bud Spencer zeigt ja auf jeden Fall, dass du zu tiefergehenden Emotionen fähig bist.

    Ja, das bin ich. Ich erlebe Emotionen sogar sehr intensiv, wenn ich sie erlebe. Ich kann aber nicht ehrlicherweise sagen, ich würde "schon ein bisschen traurig sein", wenn die Großmutter stirbt. Das wäre nur eine Floskel um Entgegenkommen an soziale Erwartungen zu signalisieren.

    Ich erlebe Emotionen auch, wenn Ereignisse sehr heftig sind. Das passierte mir zum Beispiel auch schon beim Nachrichtenschauen (Terroranschläge). Vieles andere, was die Menschen so gewöhnlich aufwühlt, lässt mich dagegen kalt (RW). Ich kann oft die ganze Aufregung nicht verstehen.

    Bud Spencer ist natürlich auch nicht gerade jung gestorben, aber vielleicht hat da deine starke Identifikation mit seinen Filmen den Ausschlag gegeben.

    Du hast bestimmt recht. Als Kind hatte ich mich mit seinen Filmen wirklich stark identifiziert. Die Filme folgten einem sehr einfachen Schema (sehr archetypisch): Das Gute siegt über das Böse. Und es gibt da einen Helden, der die Bösewichter vermöbelt und den Schwachen hilft. Vielleicht war Bud Spencer so etwas wie ein imaginärer Freund. (Und der Slapstick und der Dialogwitz in der deutschen Synchronisation haben natürlich meinen Sinn für Humor angesprochen.)

    Vielleicht passt das: Was imaginäre Freunde in der Kindheit sind, sind Geistesverwandte für Erwachsene.

  • Wenn die Großeltern sterben oder später dann auch die Eltern, dann sind sie meistens in einem Alter, wo es sich angekündigt hat. Womöglich gingen Jahr der Krankheit voraus. Zumindest ich war innerlich darauf vorbereitet.
    Bei meinen Großeltern habe ich wenig bis keine Trauer verspürt. Bei meinem Vater allerdings sehr viel mehr - vielleicht weil ich seine letzten Jahre intensiv begleitet hatte und der Tod in einer Phase kam, wo es ihm eigentlich eher wieder gut ging nach allerlei lebensbedrohlichen Geschichten. Also zwar erwartet wegen des Alters, aber unerwartet, was den Tag an sich angeht.

    Schauspieler werden ja in unserer Wahrnehmung nicht unbedingt alt. Die kommen regelmäßig immer wieder in junger Form zu uns auf die Mattscheibe.
    Gute Filme und auch Schauspieler schaffen es zudem, über dramaturgische Kniffe eine enge Verbundenheit aufzubauen zum Betrachter. Man bekommt z.B. nur die schönen Aspekte serviert und die auch noch in schneller Folge. Vermutlich weint den Schauspielern, die vor allem die Bösewichte und Unsympathen spielen kaum Jemand eine Träne nach.
    Nun weiß ich allerdings nicht, wie gut Du Carlo Pedersoli im Privatleben kanntest, also wie er wirklich war. Ich habe zwar sicherlich fast alle Filme mit ihm gesehen, weiß aber absolut nichts aus seinem Privatleben. Und selbst wenn ich mich intensiv dafür interessiert hätte, wären das ja auch nur die wenigen Dinge, die öffentlich zugänglich sind. Nichts, um daraus auf sein Innerstes zu schließen.

    _,.-o~^°´`°^~o-.,_Ich ess Blumen...,.-o~^°´`°^~o-.,_

  • Nun weiß ich allerdings nicht, wie gut Du Carlo Pedersoli im Privatleben kanntest, also wie er wirklich war. Ich habe zwar sicherlich fast alle Filme mit ihm gesehen, weiß aber absolut nichts aus seinem Privatleben. Und selbst wenn ich mich intensiv dafür interessiert hätte, wären das ja auch nur die wenigen Dinge, die öffentlich zugänglich sind. Nichts, um daraus auf sein Innerstes zu schließen.

    Er hat auch Bücher geschrieben (autobiographisch und sehr persönlich). Und er pflegte einen ganz ähnlichen Zugang zur Philosophie wie ich es tue (Titel: "Ich esse, also bin ich. Mangio ergo sum - Meine Philosophie des Essens"). Nur dass ich nicht so viel esse. :d

  • Wenn die Großeltern sterben oder später dann auch die Eltern, dann sind sie meistens in einem Alter, wo es sich angekündigt hat. Womöglich gingen Jahr der Krankheit voraus. Zumindest ich war innerlich darauf vorbereitet.
    Bei meinen Großeltern habe ich wenig bis keine Trauer verspürt. Bei meinem Vater allerdings sehr viel mehr - vielleicht weil ich seine letzten Jahre intensiv begleitet hatte und der Tod in einer Phase kam, wo es ihm eigentlich eher wieder gut ging nach allerlei lebensbedrohlichen Geschichten. Also zwar erwartet wegen des Alters, aber unerwartet, was den Tag an sich angeht.

    Es ist nicht nur der am Lebensende erwartbare Tod, auf den man sich mental vorbereiten kann. Ich fürchte, ich hatte Zeit meines Lebens keine besonders intensive Verbindung zu meiner Großmutter. Und es war, objektiv betrachtet, eine ganz gewöhnliche Großmutter. Es gab eigentlich nichts, was eine Großeltern-Enkel-Beziehung nachhaltig so gestört haben könnte. Außer eben der mögliche Umstand, dass ich nicht in der Lage gewesen bin eine emotionale Beziehung zu erkennen, zu beantworten, zu verstehen, zu pflegen...

    Generell: Ich habe eigentlich kein besonders großes Bedürfnis nach Kontakt zu meiner leiblichen Verwandtschaft. Ich habe das Bedürfnis meiner Eltern nie verstanden, wenn sie von mir erwartet hatten, regelmäßig mal anzurufen. Das tue ich heute aus Einsicht. Lieber vertiefe ich mich in die Gedankenwelten Fremder (die mir dadurch vertraut werden).

    Bei meiner Frau und besonders bei meinem Sohn ist das schon wieder anders. Hier liegt ganz viel bewusste Reflexion zugrunde und ich kann eine tiefe emotionale Verbindung erleben.

    2 Mal editiert, zuletzt von Andreas (18. April 2021 um 12:42)

  • Ich fürchte, ich hatte Zeit meines Lebens keine besonders intensive Verbindung zu meiner Großmutter. Und es war, objektiv betrachtet, eine ganz gewöhnliche Großmutter. Es gab eigentlich nichts, was eine Großeltern-Enkel-Beziehung nachhaltig so gestört haben könnte. Außer eben der mögliche Umstand, dass ich nicht in der Lage gewesen bin eine emotionale Beziehung zu erkennen, zu beantworten, zu verstehen, zu pflegen...

    Generell: Ich habe eigentlich kein besonders großes Bedürfnis nach Kontakt zu meiner leiblichen Verwandtschaft. Ich habe das Bedürfnis meiner Eltern nie verstanden, wenn sie von mir erwartet hatten, regelmäßig mal anzurufen. Das tue ich heute aus Einsicht. Lieber vertiefe ich mich in die Gedankenwelten Fremder (die mir dadurch vertraut werden).

    Filme sind ja darauf ausgelegt, besonders lustig, spannend, traurig oder auf andere Weise emotional berührend zu sein. Man begleitet die Helden bei besonders außergewöhnlichen Erlebnissen. Durch Wiederholungen von Filmen und Serien hat man dann im Extremfall hunderte oder tausende Stunden mit ihnen verbracht.

    Verwandte sieht man vielleicht ein knappes dutzend Mal im Jahr zu Feiertagen und Geburtstagen und isst ein Stück Torte mit ihnen. Dass das keine so tiefen emotionalen Spuren hinterlässt, finde ich eigentlich gar nicht so erstaunlich.

    Mit Orten geht es mir so ähnlich. Manche Menschen identifizieren sich sehr stark mit dem Ort, dem Stadtteil, der Stadt oder der Region, in der sie wohnen oder aus der sie stammen, oder können für sich viel daraus ziehen, wenn sie zum Urlaubmachen irgendwo hinreisen. Mich interessiert schon die nächste Straße nicht mehr. Zu Orten, die ich als Schauplätze von Spielfilmen kenne oder über die ich Dokumentationen gesehen habe, fühle ich oft eine viel stärkere Verbindung.

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