Akzeptanz der Diagnose

  • Zitat von Maeki

    Und zwar kann ich meine Asperger Diagnose immer noch nicht ganz akzeptieren.

    Ich kann nur von mir selbst schreiben aber vielleicht bring dir das ja auch etwas.

    Mein Problem bei der Akzeptanz meiner Diagnose sind zum Beispiel die Diagnosekriterien, bzw. Verhalten und Eigenschaften die Asperger-Autisten zugeschrieben werden. Vieles davon finde ich persönlich entweder ein falsches Vorurteil, oder viel zu oberflächlich. Als ob da nicht-Autisten aus ihrer Sicht eine Definiton über Asperger Autisten erstellt haben, ohne dass mal jemand die Asperger-Autisten selbst gefragt hätte wie das bei ihnen ist.

    Je mehr ich seit meiner Diagnose z.B. über Sozialverhalten, Reaktionen, etc. gelernt habe, umso häufiger ist mir aufgefallen dass scheinbar auch einige nicht-Autisten genau so zwischenmenschliche Defizite haben (können) Oder, dass andere Menschen genau so Probleme mit z.B. Unsicherheiten haben, oder sich nicht sozial anderen gegenüber verhalten. Mit kommt es aber so vor, dass dies bei Autisten als Defizite oder Teil ihrer Störung definiert wird, bei nicht-Autisten aber nicht als Defizit gesehen wird. Mir kommt es außerdem so vor, dass ich als Autist aufgrund meiner Diagnose hauptsächlich auf meine (mir von anderen zugeschriebenen) Defizite reduziert werde. Nicht-Autisten scheinen aber nicht auf irgendwelche Defizite reduziert zu werden, da ist ihr Verhalten dann einfach Teil ihrer Individualität.

    Ich wurde auch erst später (ca. 27) diagnostiziert und da ich ein aufmerksamer Mensch bin, merke ich die Unterschiede wie ich ohne Diagnose- und mit bekannter Diagnose von anderen Menschen behandelt werde. Und ich habe die Erfahrung gemacht, dass ich durch die Diagnose anders behandelt werde, häufig aber in negativem Sinn auf den Autismus reduziert werde und gar nicht mehr als individueller Mensch gesehen werde. Wenn ich aber durch die Diagnose Hilfen möchte, muss ich meine Diagnose mitteilen und werde dann vorverurteilt, abgestempelt (RW), in eine Schublade gesteckt (RW) oder wie man es noch nennen kann. Sobald das Wort "Autismus" fällt, habe ich null Chance mehr als individueller Mensch behandelt- und gesehen zu werden, sondern nur noch als meine Diagnose.

    Das sind so Gründe warum ich Probleme damit habe, meine Diagnose zu akzeptieren. Und ich denke, dass ich aufgrund solcher Erfahrungen meine Diagnose manchmal anzweifle, weil ich so einfach nicht gesehen- und behandelt werden möchte. Dann bin ich lieber kein Autist, sondern nur ein ganz normaler Mensch mit irgendwelchen Eigenarten. An mir selbst würde das nichts ändern, aber scheinbar sehr viel daran wie andere Menschen mich sehen, definieren und mich behandeln.

  • Hast du dieses Empfinden denn nie selbst gehabt?

    Doch. Das Empfinden habe ich schon gehabt in meinem Leben. Ich habe mir halt gedacht, dass ich gut so bin wie ich bin. Die anderen, die mich nicht verstehen sind halt komisch. Das war eine sehr egoistische Haltung von mir.

    Musik ist die Kunst die Zeit zu dekorieren.

  • Sobald das Wort "Autismus" fällt, habe ich null Chance mehr als individueller Mensch behandelt- und gesehen zu werden, sondern nur noch als meine Diagnose.

    Du sprichst mir aus der Seele. Genau darum geht es mir. Ich möchte als individueller Mensch mit all seinen Stärken und Schwächen wahrgenommen. Denn jeder Mensch hat auch Defizite und besondere Fähigkeiten. Sobald ein Mensch in eine Schublade gesteckt wird (in dem Fall "Autist") dann wird der Mensch dahinter vergessen.

    Musik ist die Kunst die Zeit zu dekorieren.

    Einmal editiert, zuletzt von Maeki (19. März 2021 um 21:47)

  • Ich habe mir halt gedacht, dass ich gut so bin wie ich bin.

    Und das bist du jetzt immer noch!

    Zitat

    Die anderen, die mich nicht verstehen sind halt komisch. Das war eine sehr egoistische Haltung von mir.

    Falsch, das ist einfach nur gesundes Selbstbewußtsein.

  • Und das bist du jetzt immer noch!

    Falsch, das ist einfach nur gesundes Selbstbewußtsein.

    Und darüber hinaus eine Überlebensstrategie, ich habe Jahrzehnte den Spieß genauso umgedreht (RW)
    Ich habe mir vorgestellt, daß die Leute die mir in der U-Bahn gegenüber sitzen Eselsohren haben, seitdem hatte ich keine Panikattacken mehr.
    Mein Chef fragte mich mal :sagen Sie mal was Sie alles falsch machen!
    Ich darauf :gar nichts, ich finde mich ganz gut.
    Muss ich heute noch drüber lachen.
    An meiner Einstellung ändert sich auch nichts wenn das Kind jetzt einen Namen hat.. (RW)

  • Mein Problem bei der Akzeptanz meiner Diagnose sind zum Beispiel die Diagnosekriterien, bzw. Verhalten und Eigenschaften die Asperger-Autisten zugeschrieben werden. Vieles davon finde ich persönlich entweder ein falsches Vorurteil, oder viel zu oberflächlich.

    Bei Verhalten und Eigenschaften, die Autisten zugeschrieben werden, finde ich das nachvollziehbar. Da ist wirklich vieles nur Klischee oder Vorurteil.

    Bei Diagnosekriterien eher nicht. Schließlich hat ja ein Diagnostiker festgestellt, dass ich diese Kriterien erfülle. Und zum Diagnostiker bin ich deswegen gegangen, weil ich mich selbst in diesen Kriterien wiedererkannt habe. Zweifel an der Richtigkeit dieser Diagnose habe ich insofern nicht.

    Je mehr ich seit meiner Diagnose z.B. über Sozialverhalten, Reaktionen, etc. gelernt habe, umso häufiger ist mir aufgefallen dass scheinbar auch einige nicht-Autisten genau so zwischenmenschliche Defizite haben (können) Oder, dass andere Menschen genau so Probleme mit z.B. Unsicherheiten haben, oder sich nicht sozial anderen gegenüber verhalten.

    Ja, natürlich gibt es auch viele andere Menschen, die in dem einen ODER anderen Bereich Probleme haben, und die vielleicht auch EINZELNE Kriterien für ASS erfüllen. Aber eben nicht in dieser Kombination, dass sie ALLE oder zumindest GENÜGEND VIELE Diagnosekriterien erfüllen.

    Ich bin, auch 10 Jahre nach der Diagnose noch nicht bereit mich mit Autismus zu identifizieren.

    Eine Diagnose zu akzeptieren ist nicht unbedingt dasselbe wie sich mit der Diagnose zu identifizieren.

    Aber es gibt durchaus Aspekte der Diagnose, mit denen ich mich auch identifizieren kann: beispielsweise die Stärken im analytisch-kritisch-rationelen Denken, die immerhin entscheidend bei meiner Berufswahl waren.

    Und die Defizite in der sozialen Kommunikation und Interaktion müssen ja nicht zwangsläufig zu sozialschädlichem Verhalten führen. Als gegenbeispiel weise ich gerne auf die Unsitte hin, dass Nichtautisten bei Unfällen gerne ihrem Herdentrieb folgen und sich oft große Gruppen von Gaffern bilden, die die Rettungsarbeiten gefährden. Das ist sozial viel schädlicher, als das Verhalten eines Autisten, der die Menschenmenge meidet und das Weite sucht.

    Das Biest ist da, es begleitet mich, beeinflusst Denken und Handeln.

    Für mein Denken und Handeln bin ich letztlich selbst verantwortlich. Zumindest wird mein Denken und Handeln nicht von einem bösen Biest namens Autismus determiniert, dem ich die Schuld in die Schuhe schieben kann.

    Ich habe noch nie das Gefühl gehabt, dass mich dieses Phänomen namens Autismus zwingt, so und nicht anders zu handeln. Sicherlich habe ich irgendwelche autismustypische Präferenzen bei der Denk- und Handlungsweise, aber ich habe doch auch als Autist jederzeit die Wahl, mich anders zu verhalten.

    Schließlich ist der Kopf doch deswegen rund, damit das Denken auch mal die Richtung wechseln kann. Wenn mir meine autistische Denk- und Handlungsweise nicht mehr gefällt, muss ich halt mal was anderes ausprobieren. Und da gibt es noch ziemlich vieles, was ich noch nie ausprobiert habe.

    Gewissermaßen ist meine Akzeptanz der Diagnose heute geringer, als direkt nach der Diagnose vor über sechs Jahren. Damals habe ich eine gute und für mich akzeptable Erklärung gefunden, warum ich zum Körperkontakt nach Möglichkeit vermieden habe. Ich dachte eigentlich schon, diese Scheu vor Körperkontakt würde ganz bestimmt lebenslang so bleiben und ich wäre als Autist auch niemals flexibel genug, etwas daran zu ändern.

    Aber es ist letztlich meine Entscheidung, ob ich mich auf Körperkontakt einlasse oder nicht. Deswegen habe ich irgendwann gegen diese vermeintlich autistische Eigenschaft rebelliert und beschlossen, mich doch mal darauf einzulassen. Und das war keine schlechte Entscheidung!

    Ich weiß nicht, ob es besser wird, wenn es anders wird. Aber es muss anders werden, wenn es besser werden soll. (Georg Christoph Lichtenberg)
    Veränderungen führen deutlich öfter zu Einsichten, als dass Einsichten zu Veränderungen führen. (Milton H. Erickson)
    Morgen werde ich mich ändern, gestern wollte ich es heute schon. (Christine Busta)

  • Zumindest wird mein Denken und Handeln nicht von einem bösen Biest namens Autismus determiniert, dem ich die Schuld in die Schuhe schieben kann.

    So ganz theoretisch stimme ich dir zu.

    Ich habe noch nie das Gefühl gehabt, dass mich dieses Phänomen namens Autismus zwingt, so und nicht anders zu handeln. Sicherlich habe ich irgendwelche autismustypische Präferenzen bei der Denk- und Handlungsweise, aber ich habe doch auch als Autist jederzeit die Wahl, mich anders zu verhalten.

    Praktisch aber gibt es schon Situationen, wo ich eine Wahl bei meinem Verhalten nicht mehr habe. Wenn ich mich zum Beispiel bei einer verbalen Auseinandersetzung persönlich angegriffen fühle, vor allem, wenn ich glaube, der Angriff sei ungerecht, dann kann ich oft nur mit Rückzug reagieren und verstumme (nur dem Angreifenden gegenüber) für Stunden, Tage... Ich hätte dann gern die Wahl, anders zu handeln, und krieg es doch nicht hin.

    "Ich kämpfe nicht, ich behaupte mich." - "Ich will nicht siegen, ich will sein." (Georg Kaiser)

  • Praktisch aber gibt es schon Situationen, wo ich eine Wahl bei meinem Verhalten nicht mehr habe. Wenn ich mich zum Beispiel bei einer verbalen Auseinandersetzung persönlich angegriffen fühle, vor allem, wenn ich glaube, der Angriff sei ungerecht, dann kann ich oft nur mit Rückzug reagieren und verstumme (nur dem Angreifenden gegenüber) für Stunden, Tage... Ich hätte dann gern die Wahl, anders zu handeln, und krieg es doch nicht hin.

    Interessantes Beispiel, über das ich auch schon nachgedacht habe.

    Meine Erkenntnis war damals: in einer Situation, wie der, die du gerade beschrieben hast, gibt es für mich (und wahrscheinlich für viele andere Autisten) mindestens zwei mögliche, als typisch autistisch geltende Reaktionen: nämlich den Shutdown (das ist das, was du beschreibst) oder den Meltdown, bei dem ich als cholerisches Stehaufmännchen agiere. Immerhin diese beiden Alternativen habe ich aber grundsätzlich. Also überlege ich rechtzeitig vorher, welche Auswirkungen diese beiden Alternativen haben. Bei beiden mache ich auf mein Umfeld keinen sehr vorteilhaften Eindruck, aber der Choleriker wird sicherlich noch deutlich negativer gesehen, als derjenige, der vorrübergehend geistig abwesend ist. Somit bleibt in der Regel faktisch nur der Rückzug, wie du es ja auch formuliert hast. Die Alternative, die du als Autist wahrscheinlch auch schon mal durchgemacht hast, wäre noch deutlich unerfreulicher für alle Beteiligten einschließlich dir selbst.

    So habe ich jedenfalls vor ein paar Jahren noch gedacht. Inzwischen bin ich in meiner Persönlichkeitsentwicklung aber einen großen Schritt weiter gekommen, und habe noch eine dritte Möglichkeit für mich entdeckt. Die besteht darin, mich rechtzeitig darauf einzustellen, dass so etwas jederzeit passieren kann, und mir eine gewisse Gelassenheit für den Umgang mit solchen Situationen anzutrainieren. Achtsamkeitsübungen waren da für mich sehr hilfreich, wobei ich die mehr oder weniger für mich selbst entdeckt habe, und erst später gelesen habe, dass so etwas ähnliches unter dem Namen Achtsamkeit schon seit mehreren Jahrtausenden im asiatischen Raum praktiziert wird.

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    Einmal editiert, zuletzt von Tuvok (21. März 2021 um 00:59)

  • Praktisch aber gibt es schon Situationen, wo ich eine Wahl bei meinem Verhalten nicht mehr habe. Wenn ich mich zum Beispiel bei einer verbalen Auseinandersetzung persönlich angegriffen fühle, vor allem, wenn ich glaube, der Angriff sei ungerecht, dann kann ich oft nur mit Rückzug reagieren und verstumme (nur dem Angreifenden gegenüber) für Stunden, Tage... Ich hätte dann gern die Wahl, anders zu handeln, und krieg es doch nicht hin.

    Das gleiche oder zumindest ähnliche Probleme haben aber auch viele NTs.
    Da kann ich dieser Aussage nur voll zustimmen:

    Je mehr ich seit meiner Diagnose z.B. über Sozialverhalten, Reaktionen, etc. gelernt habe, umso häufiger ist mir aufgefallen dass scheinbar auch einige nicht-Autisten genau so zwischenmenschliche Defizite haben (können) Oder, dass andere Menschen genau so Probleme mit z.B. Unsicherheiten haben, oder sich nicht sozial anderen gegenüber verhalten

  • Das gleiche oder zumindest ähnliche Probleme haben aber auch viele NTs.
    Da kann ich dieser Aussage nur voll zustimmen:

    Ja, die Proleme haben NTs auch. Ich kann der zitierten Aussage zwar auch grundsätzlich zustimmen, aber nicht voll.
    Der Shutdown wie auch der Meltdown sind ziemlich extreme Reaktionen, die Nichtautisten meistens nicht in diesem Ausmaß zeigen.

    Ich weiß nicht, ob es besser wird, wenn es anders wird. Aber es muss anders werden, wenn es besser werden soll. (Georg Christoph Lichtenberg)
    Veränderungen führen deutlich öfter zu Einsichten, als dass Einsichten zu Veränderungen führen. (Milton H. Erickson)
    Morgen werde ich mich ändern, gestern wollte ich es heute schon. (Christine Busta)

  • Also in den beschriebenen Situationen, reagiere ich aus meiner Sicht normal, bemühe mich massiv ruhig zu bleiben, nicht direkt zu kritisieren oder Fehler aufzudecken.
    Dadurch werde ich hektisch, unruhig und das Gegenüber wittert Schwäche etc (gut bei mir sind das auch wirklich extreme Situationen in dem Moment, das kostet alle Kraft und ist sicher keine normale Interaktion oder Diskussion ) und greift weiter an, auch ohne Argumente etc..
    also kurz gesagt n dem Moment wenn ich das versuche, wirke ich unsicher, was viele dazu veranlasst, die sachliche Ebene zu verlassen und den vermeintlichen Sieg auch emotional auszudrücken.
    In dem Moment muss ich das dann "richtig stellen"..


    Also ich nehme mir das immer stark vor, vor bestimmten Gesprächen usw, aber es gelingt nur teilweise..
    Ich würde sagen das Umfeld, die Reaktionen usw sind schon wichtig auch.
    Mit wurde wegen (teilweise zutreffenden, aber eben nicht so wie es dargestellt wird ) Verhaltensauffälligkeiten, die mit der Diagnose erklärt werden das Sorgerecht entzogen.
    Ich habe objektiv nichts falsch gemacht, das Gericht und die Gutachterin schreiben von Behandlungsbedürftiger Erkrankung Asperger-Syndrom.

    Ich habe Probleme zu akzeptieren dass ich deswegen diskriminiert werde.
    Ich sehe ein dass ich Einschränkungen usw habe, wie unterbrechen, Monologisieren, Augenkontakt, und versuche auch alles zu machen.

    Das Gutachten schreibt aber von "lang antrainierten Kompensationsstrategien, die getriggert ablaufen und für mich nicht beeinflussbar sind".
    Das rechtfertigt das alles für mich nicht und erhöht den Druck auf mich weiter.
    Also, diese Wahl habe ich leider nicht, oder nur bis zu einem bestimmten Punkt.
    Das kommt aber auch stark auf die Situationen oder Lebensumstände an, ob es einem gelingt zumindest nicht völlig die Kontrolle zu verlieren.

  • Meltdowns kenne ich von mir irgendwie gar nicht. Ich achte eigentlich immer darauf, dass ich meine Gefühle unter Kontrolle habe. Als ich beispielsweise erst bei der Ankunft erfuhr, dass mein Termin für die Erstimpfung ausfällt, war ich zwar innerlich ziemlich "angefressen", aber ich hatte mich zumindest so unter Kontrolle, dass von mir weder eine Selbst- noch eine Fremdgefährdung ausging.

    Es können bei mir dennoch Situationen auftreten, bei denen ich meine Gefühle nicht unter Kontrolle habe, z.B. wenn es um spezifische Phobien wie z.B. Höhenangst geht. Dann bekomme ich aber keinen Wutausbruch, sondern eine Panikattacke.

  • sehr spät mit 32 Jahren

    Ich habe mit 59 entdeckt, dass ich womöglich ins Spektrum falle - Diagnose mit 61...

    Und zwar kann ich meine Asperger Diagnose immer noch nicht ganz akzeptieren.

    Nicht akzeptieren im Sinne: Du wehrst Dich dagegen oder: Du zweifelst daran? Daran zweifeln wird sich womöglich nie ganz legen, wenn Du trotz AS ein halbwegs normales Leben führen kannst. Immer wieder begegnen mir hier im Forum Berichte von Usern, die so deutlich schlechter dran sind als ich, dass ich mich mal wieder frage, ob ich meine Symptome nicht dramatisiere. Aber dann kommen auch wieder Momente, wo ich genau weiß, warum ich doch noch zum Psychiater gegangen bin. Diese Stimmungsschwankungen scheinen dazuzugehören. Nebenbei, von wegen Liebe: Ich war 43, als ich meine erste Beziehung hatte (dafür hält die seit über 20 Jahren).

    Meltdowns kenne ich von mir irgendwie gar nicht.

    Ich auch nicht - heutzutage. In meiner Kindheit war das anders, da konnte ich durchaus das Rumpelstilzchen geben. Und zwar deutlich heftiger als meine Geschwister, also nicht das normale Kindergeschrei, weil etwas nicht funktioniert.

  • Meine Diagnose ist erst ein paar Tage alt und daher befinde ich mich noch in einem ganz frühen Verarbeitungsstadium.

    Sicherlich kann jemand, der die Diagnostik aus eigener Motivation angestrebt hat, diese offener annehmen. Man hat ja nach einer Erklärung für das eigene So-Sein gesucht und sich vorher mit den (auch unangenehm klingenden) Diagnosekriterien auseinander gesetzt. So geht es mir. Jetzt hat mein So-Sein eine Kategorie, einen Namen. Dadurch wird meine eigene Identität weder geschmälert noch bereichert. Aber ich kann begreifen, was in mir passiert.

    Momentan spüre ich als erste innere Reaktion eine Art von Heil-werden mit mir und der Welt. Gerade, was meine Kindheit und Jugend anbelangt. Ich weiß, dass ich nicht die manipulative Psychopathin bin, die ihr gesamtes Umfeld tyrannisiert und nach deren Willen alles zu erfolgen hat, als die ich gerne von anderen dargestellt wurde. Ich weiß jetzt, dass ich berechtigte Bedürfnisse habe, die sich oft nicht mit denen meines Umfeldes decken, und dass es mir sehr schwer fällt, diese angemessen zu verbalisieren. Das gibt mir Macht, mein Handlungsrepertoire sowie meine Außenwirkung zu erforschen. Andererseits versöhnt mich dieses Wissen ein Stück weit mit meiner Umwelt. So wie ich quasi "nicht anders konnte", konnten die auch nicht anders. Oft wurde mir einfach mit Verzweiflung und Unverständnis begegnet, weil wir quasi "andere Sprachen" gesprochen haben. Niemand hat es absichtlich gemacht, so wie ich lange dachte. Es wurde schlicht menschlich reagiert.

    Ich längst nicht mehr so viele Meltdowns wie als Kind oder als Jugendliche. Dennoch entstehen immer wieder Missverständnisse. Ich bin gespannt, wir mir mein Wissen in Zukunft helfen kann oder wird. Mir ist bewusst, dass ich in einem gewissen Rahmen immer so bleiben werde, wie ich schon immer war (und das ist super, ich mag mich eigentlich recht gern). Andererseits kann ich jetzt eben gezielt nach Bewältigungsstrategien suchen und muss mich nicht wundern, dass die NZ-Tipps nicht helfen.

    Womit ich jedoch noch ehrlich hadere, ist die Deutlichkeit, mit der ich diagnostiziert wurde. Ich dachte, dass es vielleicht ganz knapp wird oder nicht ganz eindeutig zu diagnostizieren sei, ob ich im Spektrum bin. Aber es war brutal deutlich. Für mich. Das gute daran: Eindeutigkeit.

    Ich schreibe in der Regel vom mobilen Endgerät aus - merkwürdige Wortkonstrukte sind ggf. der Autokorrektur geschuldet

  • Immer wieder begegnen mir hier im Forum Berichte von Usern, die so deutlich schlechter dran sind als ich, dass ich mich mal wieder frage, ob ich meine Symptome nicht dramatisiere.

    Ich stelle oft fest, dass viele User, die meinem Eindruck nach im sozial-kommunikativen Bereich deutlich autistischer sind als ich, bisher mehr in ihrem Leben erreicht haben als ich, vor allem im Privatleben. Das steigert nicht gerade mein Selbstwertgefühl.

  • bisher mehr in ihrem Leben erreicht haben als ich, vor allem im Privatlebe

    Was sollte Mensch im Privatleben erreichen? Bei mir geht es im privaten hauptsächlich um Erkenntnis und bin trotz meines Mangels an jener, meinem Umfeld diesbezüglich vorraus(RW).
    Mal mehr, mal weniger(RW).

  • Jetzt hat mein So-Sein eine Kategorie, einen Namen. Dadurch wird meine eigene Identität weder geschmälert noch bereichert. Aber ich kann begreifen, was in mir passiert.

    Momentan spüre ich als erste innere Reaktion eine Art von Heil-werden mit mir und der Welt.

    Das beschreibt sehr gut, wie es mir erging. Bei mir war es noch nicht einmal die Diagnose, das war nur noch formeller Vollzug, sondern die Erkenntnis, dass AS sehr viel erklären würde (kam als Folge der Diagnose meiner Tochter), also bereits der Verdacht. Meine Frau beschreibt das so, dass ich im ersten Jahr danach schon fast euphorisch gewesen sei, einfach, weil ich auf einmal begriffen habe, dass vieles in meinem Leben, das ich als Versagen gesehen hatte, keine vermeidbaren Fehler gewesen waren, sondern AS. Meine leichte Meise, von deren Existenz ich immer wusste, hatte auf einmal einen Namen, und sie erklärte gleich noch ein paar andere Ärgernisse wie z.B. die Flatterei - weil sie sich doch als etwas größer erwies als vermutet. Eher Kohlmeise als Blaumeise.

    Wenn ich mich richtig erinnere, was dazu hier schon geschrieben wurde, ist es wohl nicht nur bei mir eine Frage des Alters, in dem die Erkenntnis bzw. Diagnose kommt. Je älter man ist, desto eher neigt man zu Erleichterung im Rückblick auf vergangenes Mißgeschick und "Fehler", und umgekehrt ist die Erkenntnis, dieses Päckchen - entgegen allen bisherigen Hoffnungen, irgendwie doch noch "normal" zu werden - bis zum Lebensende mittragen zu müssen, in jüngerem Alter naturgemäß schmerzhafter.

    Was sollte Mensch im Privatleben erreichen?

    z.B. eine Beziehung - wahrscheinlich kann sich niemand der nicht selbst in der Situation ist/war vorstellen, was es heißt Jahr um Jahr zu hoffen, dass es irgendwie doch noch klappt, gegen alle Wahrscheinlichkeit weil es ja noch nie geklappt hat, und das über die 30 oder wie bei mir über die 40 hinaus.

    Einmal editiert, zuletzt von HCS (21. März 2021 um 11:54)

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