Gibt es Nicht-Autisten?

  • Ich war letztens schon ziemlich überrascht, als eine gute Freundin mich als "lieb, höflich und empathisch" bezeichnete und dass ich so gut wie es geht versuchen würde, mich in andere Personen hineinzuversetzen.

    Von anderen Leuten habe ich auch schon gehört, ich sei "lebhaft", "kommunikativ" und "könnte Gefühle gut zeigen".

    Ich fühle mich zwar sehr dankbar, wenn Leute mir diese positive Eigenschaften zuschreiben (auch wenn ich mich meistens selbst nicht so sehe), aber auf der anderen Seite habe ich das Gefühl, dass es mit meiner AS-Diagnose so gar nicht zusammenpasst...

    Die positiven Eigenschaften die du erwähnst sind Charaktereigenschaften. Vom Charakter her "dürfen" Aspies lieb, höflich und empathisch sein oder lebhaft, kommunikativ und offen sein mit ihren Gefühlen. Es soll eher die kognitive Empathie sein wo sie Schwierigkeiten haben.

    Dass meine Beiträge so oft editiert werden hat meistens aber nicht immer damit zu tun dass ich sowohl grammatikalische oder syntaktische wie auch stilistische oder einfache Schreibfehler nicht immer sofort sehe und sie deswegen nachträglich korrigieren muss.

  • Was versteht man genau unter kognitiver Empathie?

    Die Fähigkeit einzuschätzen oder was andere Menschen fühlen/denken/tun werden usw. aufgrund von nicht verbalen Zeichen. Im Gegensatz zu emotionaler Empathie oder zu der Fähigkeit mitzufühlen (Mitleid oder Mitfreude). Es wird behauptet dass Aspies genauso mitfühlend sind wie andere Menschen aber dass sie weniger fähig sind als andere Menschen einzuschätzen was genau es ist das Andere fühlen. Deswegen können sie manchmal den Eindruck erwecken dass sie nicht (emotional) empathisch sind obwohl sie es tatsächlich sind. Das genaue Gegenteil wäre der Psychopath, der andere Menschen prima "lesen" kann aber kein Mitgefühl für sie hat.

    Dass meine Beiträge so oft editiert werden hat meistens aber nicht immer damit zu tun dass ich sowohl grammatikalische oder syntaktische wie auch stilistische oder einfache Schreibfehler nicht immer sofort sehe und sie deswegen nachträglich korrigieren muss.

  • Ich will absolut nicht ausschließen, dass es auch lebhafte und mehr gefühlsbezogene Autisten gibt, aber ich habe das Gefühl, dass diese einer sehr, sehr seltenen Sorte angehören müssen - gerade bei Männern. Und das bereitet mir seit Langem Kopfzerbrechen. Es schafft einfach keine klaren Verhältnisse...

    Darüber zerbreche ich mir auch oft den Kopf. Aber ich denke, dass es einfach eine Typsache ist. Unter Nichtautisten gibt es ja auch viele verschiedene Persönlichkeitstypen. Hier im Forum gibt es z.B. den Myers Briggs Test (sowohl für "NTs" als auch für Autisten), dort kommt es zu vielen verschiedenen Ergebnissen im Hinblick auf den Persönlichkeitstyp. Mir ist es z.B. sehr wichtig, mit meinen Mitmenschen (soweit es möglich ist) auszukommen, daher lege ich meinen Fokus auf Anpassung.

  • Ich fühle mich zwar sehr dankbar, wenn Leute mir diese positive Eigenschaften zuschreiben (auch wenn ich mich meistens selbst nicht so sehe), aber auf der anderen Seite habe ich das Gefühl, dass es mit meiner AS-Diagnose so gar nicht zusammenpasst...

    Was soll denn da nicht zusammenpassen? Die AS-Diagnose sagt ja erstmal nur, dass die unbewussten, intuitiven Anpassungsmechanismen nicht so gut funktionieren.

    "Lieb, höflich, lebhaft, kommunikativ, empathisch (im Sinne von: 'nicht egozentrisch' / 'berücksichtigend, dass der andere anders fühlt als ich')" sind Charaktereigenschaften, die nicht notwendigerweise diese (bei Autismus gestörten) "intuitiven Anpassungsmechanismen" voraussetzen.

    Ich nehme mir mal beispielhaft die Eigenschaft "höflich" raus - da behaupte ich nämlich, dass das Autisten fast leichter fällt: Ich muss mir doch nur ein paar "Regeln" / "Routinen" angewöhnen à la "Leuten, die dicht hinter mir gehen, die Tür aufhalten", "ältere Leute siezen" u.ä., und schon werde ich allseits als "höflich" wahrgenommen.

    Ein Autist, der in seiner Kindheit und Jugend solche Regeln explizit lernt (z. B. weil Vertrauenspersonen ihm dies nahelegen, und er diese nicht länger enttäuschen / unabsichtlich verletzen will), der wird später als "höflich" wahrgenommen. Nur der Autist, der (neben der autismusbedingt verpassten Chance, diese Regeln implizit zu lernen) sie auch nicht explizit lernt, der gilt dann später als "unhöflich".

    Und das ist bei all den anderen Eigenschaften genauso. Autismus heißt ja nicht "man wird zum Arsch", sondern "man muss das ganze Sozialverhalten explizit lernen". Ob man es dann tatsächlich lernt, das hängt von allen möglichen Faktoren - vor allem wohl vom Umfeld - ab.
    (Außerdem gibt es natürlich noch das Problem, dass das explizite Lernen von Sozialverhalten Ressourcen bindet - aber das ist im jungen Alter, wo das Gehirn noch lernfähig ist, noch nicht so ein Riesenproblem wie später.)

    Wenn man diese Dinge alle explizit lernt, dann besteht gar die Möglichkeit, dass man sie säter in einem gewissen Sinne "besser" macht als "NTs". Also wenn man bspw. die Regel "andere ausreden lassen" gelernt hat und ganz streng befolgt, dann ist man damit in gewisser Weise schon "höflicher" als 98% der "NTs". :d

    "He that can take rest is greater than he that can take cities." ~ Benjamin Franklin

    Ich hab mehr Spielwiesenbeiträge als du!

  • Das mit dem Tür aufhalten ist einfach. Aber Dinge auszudrücken, ohne anderen auf die Zehen zu treten, ist schwer. Mir wurde gelegentlich gesagt, ich sei unverschämt und dreist, obwohl ich der Meinung war, höflich zu sein.

    Andererseits wurde mir aber auch schon gesagt, ich sei doch so nett und ruhig, ich würde sicher mit allen Menschen auskommen. Da ist auch was dran, aber leider kommen die andern nicht mit mir aus. Irgendwas läuft immer schief, trotz nett und ruhig. Das allein reicht halt oft nicht. Viele Menschen haben Erwartungen darüber hinaus, wie man sein muss und wie man nicht sein darf. Aber vor allem diese widersprüchlichen Aussagen sind schon bemerkenswert.

    Historisch gesehen waren die schrecklichsten Dinge wie Krieg, Genozid oder Sklaverei nicht das Ergebnis von Ungehorsam, sondern von Gehorsam.
    (Howard Zinn)

  • Aber Dinge auszudrücken, ohne anderen auf die Zehen zu treten, ist schwer.

    Ja. Wobei mein Eindruck ist, dass es auch sehr von der Person abhängt. Also es gibt Leute, die sich tendenziell schnell "auf den Schlips getreten" fühlen, und solche, bei denen das nicht der Fall ist. Wenn man weiß, bei wem man wie aufpassen muss, kann das ein bisschen entlasten.

    Ansonsten ist es vermutlich auch hier wieder z. T. Sache des Umfeldes, in dem man aufwächst. Ich hatte z. B. das zweifelhafte "Glück", in meinem nächsten Umfeld jemanden zu haben, der sich sehr schnell gekränkt fühlt und aufregt, da hatte ich dann halt wirklich guten Grund (und reichlich Gelegenheit), vorsichtigeres Formulieren zu "trainieren".
    Das wirkt dann bei oberflächlicher Betrachtung von außen zunächst vielleicht sogar wie eine besonders gute kommunikative Kompetenz (und damit evtl. autismusuntypisch), aber es ist eben kein natürliches Talent und bindet massiv Ressourcen.
    (Und bei der nächsten Gelegenheit zeigt sich außerdem, dass das eine total einseitige "Fähigkeit" ist; wenn es nämlich z. B. auf klare Ansprachen ankommt, da bin ich ne totale Niete, und das wäre bei jemand ernsthaft kommunikationsbegabten wohl anders. :roll: )

    Das allein reicht halt oft nicht. Viele Menschen haben Erwartungen darüber hinaus, wie man sein muss und wie man nicht sein darf. Aber vor allem diese widersprüchlichen Aussagen sind schon bemerkenswert

    Ja. Wenn man einen bestimmen Teil in der Kommunikation sehr gut beherrscht (und sogar besser hinkriegt als so mancher "NT"), dann fällt das den Leuten positiv auf und wird einem in dem Moment vielleicht auch so zurückgemeldet. Aber das "Gesamtpaket" stimmt halt trotzdem nicht. Die widersprüchlichen Reaktionen kommen daher, dass die anderen denken, wenn man eine Sache besonders gut macht, dann müsste man doch alles, was Zwischenmenschliches betrifft, gut können.

    "He that can take rest is greater than he that can take cities." ~ Benjamin Franklin

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    Einmal editiert, zuletzt von Abendstern (7. November 2020 um 18:35)

  • Ansonsten ist es vermutlich auch hier wieder z. T. Sache des Umfeldes, in dem man aufwächst.

    Aber klar. Und zwar nicht nur zufallsabhängig, wie du schreibst:

    Ich hatte z. B. das zweifelhafte "Glück", in meinem nächsten Umfeld jemanden zu haben, der sich sehr schnell gekränkt fühlt

    , sondern auch abhängig von der Zeit, dem kulturellen Umfeld und sicher auch von der Schicht, in der man aufwächst. Die bürgerliche Erziehung, die ich vor vielen Jahrzehnten genossen habe (ACHTUNG, ehe es jemand falsch versteht: Ich bilde mir darauf nichts ein), zielte schon deutlich darauf, Kinder an die Erwachsenenwelt und deren soziale Normen anzupassen. Lieb und höflich sein, sich vor Erwachsenen nicht in den Vordergrund zu spielen, auf Fragen brav zu antworten, das wurde immer wieder eingefordert, notfalls auch mit Ohrfeigen.

    Anderen nicht auf die Zehen zu treten, siehe @Shenya weiter oben, gehört sicher auch zu diesem Lernprozess. Ich selber würde in der Face-to-face-Kommunikation anderen sehr gern häufiger auf die Zehen treten, aber das fällt mir bis heute schwer. Schriftlich ist das einfacher... ;)

    "Ich kämpfe nicht, ich behaupte mich." - "Ich will nicht siegen, ich will sein." (Georg Kaiser)

  • Die widersprüchlichen Reaktionen kommen daher, dass die anderen denken, wenn man eine Sache besonders gut macht, dann müsste man doch alles, was Zwischenmenschliches betrifft, gut können.

    Das ist gut möglich. Die Leute, die nur meine angepasste Seite kennen, können sich nicht vorstellen, dass ich auch anders sein kann. Je länger man sich dann kennt, desto mehr fallen die weniger ausgeprägten Fähigkeiten auf.

    Historisch gesehen waren die schrecklichsten Dinge wie Krieg, Genozid oder Sklaverei nicht das Ergebnis von Ungehorsam, sondern von Gehorsam.
    (Howard Zinn)

  • Wenn Du noch mehr 'esoterische' Beispiele wie im Brigitte Artikel lesen magst über 'alte Seelen', 'besondere Identitätsfindung' und spezielle Seelen etc. dann schau dort mal rein
    http://mystischerrabe.de/spiritualitat/…inder-hoffnung/

    Interessant. Indigo-Kinder kannte ich, aber ich wußte nicht, dass es da auch schon wieder etwas neues gibt.

    Was dein Artikel/Zitat aus der Brigitte nun tatsächlich mit AS zu tun hat, habe ich evtl. noch nicht verstanden. Statt einer Positivliste für AS könne man auch die vermeintliche Identitätssuche verlagern auf 'alte Seele' o. ä., verstehe ich das so richtig?

    Genau so war es gemeint, aber ohne das "vermeintlich". Die Leute, die sich als "alte Seele" o.ä. verstehen tun das ja nicht deswegen, weil sie tatsächlich alte Seelen o.ä. wären (behaupte ich jetzt mal), sondern weil es Identifikationsmöglichkeiten bietet. Wenn man Autismus nur über positive Eigenschaften kennenlernt bzw. diese damit verbindet, stellt es sich nicht anders als solch ein Konstrukt dar.

    Die Geschichte mit den Kristallkindern ist da natürlich schon wieder etwas anderes, weil eine defizitäre Definition von Autismus bekannt zu sein scheint:

    Zitat


    Es kommt vor, dass Ärzte bei ihnen Autismus und das Aspberger-Syndrom diagnostizieren [...] Ein solcher tranceähnlicher Zustand ist ein Aspekt, der oft zur Diagnose von Autismus verwendet wird. Bei Kristallkindern wäre diese Diagnose jedoch falsch, da diese Kinder nur vorübergehend von der Welt ausgeschlossen sind.

    Also da wird nicht versucht, Autismus positiv umzudeuten, sondern eine evtl. bestehende Diagnose als falsch zu werten. Das finde ich unverantwortlich und gefährlich. Die Geschichte mit den alten Seelen finde ich harmlos.

  • Das freut mich, dass Du den Ansatz des Autismus-Spektrum-Phänotyp als hilfreich zur Thematik AS siehst.
    Für mich ist diese Bezeichnung unglaublich aufschlussreich.

    Finde ich auch. Sie vereint vieles, was ansonsten auf den ersten Blick widersprüchlich wirken mag.

    Den 'Kristallkinder' Artikel hatte ich eigentlich nur schnell aufgestöbert um etwas 'überspitzt' (RW) aufzuzeigen, dass es noch viel extremere Beispiele der 'Identitätssuche' gibt als 'cool' und 'interessant' sein durch AS, 'Alte Seelen' etc., damit mochte ich sozusagen den Brigitte Artikel über 'Alte Seelen' etwas ironisch betrachten, nicht um zu kritisieren, einfach neutral, der Vielfalt wegen, humorvoll ...

    Ja, das ist es sicher, zumindest, solange ein Kind nicht damit aufwächst, ein "Kristallkind" und eine "alte Seele" zu sein. Womöglich sogar, weil die Familie Autismus als Diagnose nicht wahrhaben will, das kommt ja auch beispielsweise bei Hochsensibilität vor.

    Das mit dem Tür aufhalten ist einfach. Aber Dinge auszudrücken, ohne anderen auf die Zehen zu treten, ist schwer. Mir wurde gelegentlich gesagt, ich sei unverschämt und dreist, obwohl ich der Meinung war, höflich zu sein.

    Andererseits wurde mir aber auch schon gesagt, ich sei doch so nett und ruhig, ich würde sicher mit allen Menschen auskommen. Da ist auch was dran, aber leider kommen die andern nicht mit mir aus.

    Ich kenne auch beides und polarisiere in der Hinsicht häufig. Auch ich versuche zumeist, höflich und freundlcih z sein, und ecke doch immer wieder an. Umgekehrt konnten mir aber schon mehrfach Menschen nicht glauben, dass ich auf manche unsympahisch wirke und in Gruppen immer wieder Schwierigkeiten habe.

    Viele Menschen haben Erwartungen darüber hinaus, wie man sein muss und wie man nicht sein darf.

    Ja, und vielen sind diese Erwartungen nicht einmal wirklich bewusst, was es noch schwieriger macht.

    From my youth upwards my spirit walk'd not with the souls of men. (...)
    My joys, my griefs, my passions, and my powers, made me a stranger.

  • Also da wird nicht versucht, Autismus positiv umzudeuten, sondern eine evtl. bestehende Diagnose als falsch zu werten. Das finde ich unverantwortlich und gefährlich. Die Geschichte mit den alten Seelen finde ich harmlos.

    solange ein Kind nicht damit aufwächst, ein "Kristallkind" und eine "alte Seele" zu sein. Womöglich sogar, weil die Familie Autismus als Diagnose nicht wahrhaben will, das kommt ja auch beispielsweise bei Hochsensibilität vor.

    Sehe ich beides auch so.

    Brit Wilczek widmet sich in ihrem Buch einem ganzen Kapitel zum Thema 'Identität' und ich denke, dass dies in der Tat bei vielen Betrachtungsweisen eine gewisse Grundproblematik mit sich bringt, in beide Richtungen: Idealisierung und 'nicht wahrhaben wollen'.

    Das kann ja auch beobachtet werden, bei jemandem der/die sich sehr stark mit AS identifiziert, sich dann ggf. einer Diagnostik unterzieht, woraufhin festgestellt wird, dass keine ASS zu diagnostizieren ist. Diese Person wird sich mit 'Händen und Füßen' (RW) gegen den/die aus Sicht der Person 'schlechten inkompetenten Diagnostiker/in' wenden.
    Dieses Beispiel nenne ich, da es auch hier im Forum oftmals die Situation zu geben scheint und sich insbesondere auch VA ihrer Situation in Bezug auf 'Identität durch AS' stellen müssen, egal in welche Richtung es geht und vor allem egal ob es der eigenen Wunschvorstellung entspricht oder nicht.

    Einmal editiert, zuletzt von maksa (10. November 2020 um 10:00)

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