Soziale Kontakte haben eher negative Auswirkungen?

  • Für mich (NT) bedeutet "sich melden" eben "Interesse am Kontakt".

    Richtig. Oder meistens richtig. Denn "sich melden" bedeutet bei NTs ja vielleicht auch "mir ist grade langweilig" oder "Ich mag nicht allein ins Kino"; ich will sagen, Interesse am zwischenmenschlichen Kontakt ist vielleicht auch ein bisschen überinterpretiert.

    Wichtiger: Der Umkehrschluss, den du offenbar ziehst, "sich nicht melden" bedeutet "kein Interesse am Kontakt", ist falsch. Ich kann gar nicht genau ausdrücken, was in mir mich oft vom "sich melden" abhält. Es kostet mich mehr Kraft, ich muss vorher nachdenken, was ich alles äußere, und irgendwie muss das Melden (ob schriftlich oder am Telefon) in meinen Tagesablauf passen. Mein Tag ist zwar nicht minutiös geplant, aber so einfach zwischendurch mal ein Telefonat einschieben ist schwer. Fazit für mich (bei anderen mag es anders sein): Mich bei Freunden zu melden, ist so was wie Arbeit, so etwas wie - ein Beispiel - den Keller aufräumen. Das schiebt man lange vor sich her, findet tausend Gründe, es nicht zu tun, wenn man es aber endlich macht, kann es einem sogar richtig Spaß machen, und nachher bleibt ein gutes Gefühl zurück. Was dich genau abgehalten hat, es früher zu tun, kannst du nachher kaum sagen.

    Noch ein Gedanke: Wenn DU Blaubeermuffins möchtest, dann musst DU dir welche backen (kriegt wirklich jeder hin). Sich hinzusetzen und zu jammern "mein/e Partner*in backt mit nie welche", "die von meinem Bäcker schmecken nicht und sind zu teuer" und was für Ausreden vielleicht noch herhalten müssen, das alles hilft nicht weiter und du musst auf die Dinger halt verzichten. Wenn DU mit deinem Kollegen Kontakt möchtest, melde dich halt. Und zwar, weil DU die gemeinsame Zeit schön findest. Wenn du jammernd dasitzt und auf seine Kontaktaufnahme wartest, heißt das ja im Grund, dass dein Ego ein bisschen gestreichelt werden will und nicht, dass dir am Kontakt liegt.

    "Ich kämpfe nicht, ich behaupte mich." - "Ich will nicht siegen, ich will sein." (Georg Kaiser)

  • Für Nichtautisten ist das in aller Regel kein Problem, mir hingegen gehen solche Fragen stets im Kopf herum, nicht immer so, dass ich vor der Situation kneife, denn manchmal freue ich mich ja auch, einen bestimmten Menschen zu sehen, nur ist da eben immer eine Barriere zu überwinden. Stell sie dir als Mauer vor, manchmal kann ich locker drübersteigen, manchmal ist sie verdammt hoch, und manchmal komm ich halt gar nicht drüber.

    Die gedankliche Mauer kenne ich ganz gut. Meist besteht sie aus dem Für und Wider der Situation. Da sich für eine soziale Situation unzählige Interpretation in meinem Kopf sammeln weiß ich nicht wie ich die aktuelle Beziehung zu der Person einschätzen soll und somit auch nicht wie und in welcher Art der Kontakt überhaupt entstehen soll. Außerdem kommt dann ja, weil ich weiß wie blöd ich mich dabei anstelle, noch die Angst dazu das es von Anfang an schief geht. Vieles überdenkt mein Hirn auch einfach. Also wenn jemand, als NT, mir einen Hinweis zwischen den Zeilen (RW) gibt, dass ich mich mal wieder melden solle, dann kommt dies meist überhaupt nicht in der bewussten Wahrnehmung des Hirns an. Da ist wohl ein Filter nicht vorhanden. Vieles wird zwar bewusst kognitiv kompensiert, aber um so komplexer sich die Situation gestaltet um so geringer die Wahrscheinlichkeit das ich da irgendwie durchsehe. Und folglich werde ich auch nicht bei der Kontaktaufnahme aktiv. @bunchy Vielleicht solltest du die Beziehungsart zu deine Kollegen klarer ihm gegenüber definieren. So wäre es bei mir.

  • Gerade heutzutage mit whatsapp zB ist das doch wirklich kein Problem.

    Dementsprechend bedeutet es für mich eben auch "Desinteresse am Kontakt", wenn jemand sich nicht meldet.

    "Kein Problem" stimmt halt nicht für jemand mit Autismus. Das mit dem Keller aufräumen ist schon ein gutes Beispiel. Die "kurze Kontaktaufnahme", die für die meisten normalen Leute kein Problem ist, kann für jemanden mit Autismus schon ein Aufwand sein, den er im normalen Alltag nicht bewältigen kann. Weil da nämlich nicht nur du bist, der mal auf eine Nachricht wartet, sondern noch so viele andere Aufgaben, die auch erledigt werden wollen.

    Ich will seine "Zeichen" deuten können. Wenn er anscheinend eine andere Art und Weise hat, anderen zu zeigen, dass er denjenigen mag und ein Kontakt gewünscht ist, ist das okay für mich, nur will ich es dann auch mitbekommen

    Das Zeichen ist, dass er überhaupt kommt und seine Zeit dafür investiert. Das würde er nicht tun, wenn ihm nichts an dir liegen würde.
    Ganz gut fand ich da den Schlusssatz auf dieser Seite:
    http://www.rheumatopia.de/blog/l%C3%B6ffeltheorie
    "Und jedes Mal, wenn ich Zeit mit meiner Familie, oder meinen Freunden verbringe, sehen sie das als besonders, denn sie haben einen meiner Löffel bekommen. "
    Denn mit dem Asperger-Syndrom ist es genau so, wie es dort beschrieben ist, auch wenn es dort um etwas anderes geht.

    Das kommt noch hinzu, dass er manchmal so große Schritte machen kann (wieso klappt das, dass er den gemeinsamen Urlaub vorschlagen konnte, aber ein normaler Kaffee zwischendurch auf der Arbeit geht nicht?)

    Das ist ein besonders großes Zeichen. Der Urlaub war vermutlich ein großes Projekt für ihn, da hat er Energie reininvestiert. Diese Energie kann er aber nicht ständig aufbringen.

    Deshalb wäre der Vorschlag, einen festen regelmäßigen Termin zu vereinbaren, vermutlich eine gute Hilfe für ihn. Aber du kannst ihn ja mal fragen, was er davon halten würde.

    Historisch gesehen waren die schrecklichsten Dinge wie Krieg, Genozid oder Sklaverei nicht das Ergebnis von Ungehorsam, sondern von Gehorsam.
    (Howard Zinn)

    Einmal editiert, zuletzt von Shenya (11. April 2020 um 19:22)

  • Vielen Dank erstmal an euch alle für die vielen Antworten und Gedankenstöße, die ich hier erhalte. Das hilft mir wirklich sehr.

    Ich denke seine Zeichen wirst du schwer deuten können.


    Es ist sicher nicht böse von ihm gemeint, wenn er sich von sich aus nicht meldet.

    Meinst du, ich als NT kann die Zeichen nur schwer deuten... oder würden andere Aspies diese auch kaum deuten können, weil jeder anders ist?

    Das versuche ich mir auch ständig in Erinnerung zu rufen: "es ist nicht böse gemeint". Aber ich muss sagen, dass mir das leider an manchen Tagen extrem schwer fällt, je nachdem wie meine Stimmung so ist. :( Da finde ich hoffentlich auch noch eine Lösung für. Ich glaube, dass es mir helfen könnte, wenn ich mit ihm mal offen über alles reden könnte. Aber so offen reden wir leider nicht. Ist vielleicht auch etwas zu intim.

    Richtig. Oder meistens richtig. Denn "sich melden" bedeutet bei NTs ja vielleicht auch "mir ist grade langweilig" oder "Ich mag nicht allein ins Kino"; ich will sagen, Interesse am zwischenmenschlichen Kontakt ist vielleicht auch ein bisschen überinterpretiert.
    Wichtiger: Der Umkehrschluss, den du offenbar ziehst, "sich nicht melden" bedeutet "kein Interesse am Kontakt", ist falsch. Ich kann gar nicht genau ausdrücken, was in mir mich oft vom "sich melden" abhält. Es kostet mich mehr Kraft, ich muss vorher nachdenken, was ich alles äußere, und irgendwie muss das Melden (ob schriftlich oder am Telefon) in meinen Tagesablauf passen. Mein Tag ist zwar nicht minutiös geplant, aber so einfach zwischendurch mal ein Telefonat einschieben ist schwer. Fazit für mich (bei anderen mag es anders sein): Mich bei Freunden zu melden, ist so was wie Arbeit, so etwas wie - ein Beispiel - den Keller aufräumen. Das schiebt man lange vor sich her, findet tausend Gründe, es nicht zu tun, wenn man es aber endlich macht, kann es einem sogar richtig Spaß machen, und nachher bleibt ein gutes Gefühl zurück. Was dich genau abgehalten hat, es früher zu tun, kannst du nachher kaum sagen.

    Noch ein Gedanke: Wenn DU Blaubeermuffins möchtest, dann musst DU dir welche backen (kriegt wirklich jeder hin). Sich hinzusetzen und zu jammern "mein/e Partner*in backt mit nie welche", "die von meinem Bäcker schmecken nicht und sind zu teuer" und was für Ausreden vielleicht noch herhalten müssen, das alles hilft nicht weiter und du musst auf die Dinger halt verzichten. Wenn DU mit deinem Kollegen Kontakt möchtest, melde dich halt. Und zwar, weil DU die gemeinsame Zeit schön findest. Wenn du jammernd dasitzt und auf seine Kontaktaufnahme wartest, heißt das ja im Grund, dass dein Ego ein bisschen gestreichelt werden will und nicht, dass dir am Kontakt liegt.

    Haha, ja, da hast du recht, es könnte genauso gut "mir ist grade langweilig" oder "Ich mag nicht allein ins Kino" bedeuten :D

    Mir gefällt dein Vergleich mit dem Keller aufräumen sehr gut, so kann ich mir diese "Mauer" und das Aufschieben sehr gut vorstellen. Danke dafür!
    Ist es eigentlich auch andersrum so, dass es dir unangenehm ist, wenn sich jemand bei dir meldet? Denn so wirst du "gezwungen" zu reagieren. Du hast keine Wahl, wann es passiert (was wenigstens ein kleiner Vorteil beim "sich selber melden" wäre) und hinzu kommt vielleicht auch noch ein schlechtes Gewissen, wenn dir auffällt "ja stimmt, ich habe mich mal wieder ewig nicht gemeldet".
    Sprich: soll ich ihn vielleicht einfach lieber in Ruhe lassen?

    Blaubeermuffins: Auch ein schöner Vergleich :) Es bleibt mir ja nichts anderes übrig als es zu akzeptieren und wie du selbst sagst, selbst die Initiative zu ergreifen. Und ja, natürlich ist auch ein wenig Ego streicheln mit dabei. Er wirkt die allermeiste Zeit so normal, dass man schnell vergisst (bzw. es kaum "glauben" kann) dass ihm manche Dinge echt schwer fallen. Und weil es mir leicht fällt, gehe ich leider oft davon aus, dass es doch für andere auch nicht so schwer sein kann :( Oder wenn er momentan täglich vom homeoffice aus sehr häufig mit zig Kollegen telefoniert (rein beruflich), frage ich mich natürlich schon, warum würgt er mich nach nur einer Minute ab? Wir hatten uns wegen Corona schon 4 Wochen nicht mehr gesehen/gelesen/gehört... und er scheint nichts zu vermissen.

    Die gedankliche Mauer kenne ich ganz gut. Meist besteht sie aus dem Für und Wider der Situation. Da sich für eine soziale Situation unzählige Interpretation in meinem Kopf sammeln weiß ich nicht wie ich die aktuelle Beziehung zu der Person einschätzen soll und somit auch nicht wie und in welcher Art der Kontakt überhaupt entstehen soll. Außerdem kommt dann ja, weil ich weiß wie blöd ich mich dabei anstelle, noch die Angst dazu das es von Anfang an schief geht. Vieles überdenkt mein Hirn auch einfach. Also wenn jemand, als NT, mir einen Hinweis zwischen den Zeilen (RW) gibt, dass ich mich mal wieder melden solle, dann kommt dies meist überhaupt nicht in der bewussten Wahrnehmung des Hirns an. Da ist wohl ein Filter nicht vorhanden. Vieles wird zwar bewusst kognitiv kompensiert, aber um so komplexer sich die Situation gestaltet um so geringer die Wahrscheinlichkeit das ich da irgendwie durchsehe. Und folglich werde ich auch nicht bei der Kontaktaufnahme aktiv. @bunchy Vielleicht solltest du die Beziehungsart zu deine Kollegen klarer ihm gegenüber definieren. So wäre es bei mir.

    Danke für deine Tipps! Ich versuche bei ihm so wenig wie möglich zwischen den Zeilen zu sagen und etwas ganz direkt anzusprechen. Manchmal klappt das dann auch ;) Die Beziehungsart klarer definieren, hm... also eigentlich ist alles geklärt. Ich habe ihm auch gesagt, dass ich mich sehr freuen würde, wenn von ihm mehr ausgeht. Und wenn das dann mal passiert, betone ich auch, wie sehr ich mich freue und wie toll ich das finde. Mehr kann ich glaub ich nicht tun. Ich will ihn ja nicht zwingen, das muss schon alles freiwillig passieren.

    "Kein Problem" stimmt halt nicht für jemand mit Autismus. Das mit dem Keller aufräumen ist schon ein gutes Beispiel. Die "kurze Kontaktaufnahme", die für die meisten normalen Leute kein Problem ist, kann für jemanden mit Autismus schon ein Aufwand sein, den er im normalen Alltag nicht bewältigen kann. Weil da nämlich nicht nur du bist, der mal auf eine Nachricht wartet, sondern noch so viele andere Aufgaben, die auch erledigt werden wollen.

    Das Zeichen ist, dass er überhaupt kommt und seine Zeit dafür investiert. Das würde er nicht tun, wenn ihm nichts an dir liegen würde.Ganz gut fand ich da den Schlusssatz auf dieser Seite:
    http://www.rheumatopia.de/blog/l%C3%B6ffeltheorie
    "Und jedes Mal, wenn ich Zeit mit meiner Familie, oder meinen Freunden verbringe, sehen sie das als besonders, denn sie haben einen meiner Löffel bekommen. "
    Denn mit dem Asperger-Syndrom ist es genau so, wie es dort beschrieben ist, auch wenn es dort um etwas anderes geht.

    Das ist ein besonders großes Zeichen. Der Urlaub war vermutlich ein großes Projekt für ihn, da hat er Energie reininvestiert. Diese Energie kann er aber nicht ständig aufbringen.
    Deshalb wäre der Vorschlag, einen festen regelmäßigen Termin zu vereinbaren, vermutlich eine gute Hilfe für ihn. Aber du kannst ihn ja mal fragen, was er davon halten würde.

    Stimmt, das "kein Problem" bezog sich auf mich. Mein Kopf weiß, dass es für Autisten sehr schwierig ist.

    Danke für den Link! Mir gefällt die Geschichte sehr gut und ich finde sie echt anschaulich. So kann man es sich wieder ein bisschen besser vorstellen und nachvollziehen.
    Das mit seiner investierten Zeit sehe ich schon auch. Nur gerät das manchmal in den Hintergrund, weil er ja täglich mit irgendjemandem Essen geht auf der Arbeit. Also verliert es irgendwo dann doch wieder ein bisschen seine "Besonderheit", essen muss er ja sowieso. Aber ich weiß, dass er mit den anderen immer nur berufliches bespricht und sich nur halb so viel Zeit nimmt. Mit mir ist schon auch Privates dabei, er erzählt schon mal von seinen Eltern oder Bruder, oder was er am WE macht. Auch wenn wir schon die meiste Zeit über sein Spezialinteresse sprechen, weil mich das auch interressiert, aber nicht nur :)

    Ein fester monatlicher Termin ist echt eine gute Idee. Werde ich ihm mal vorschlagen. Danke! :)


    @alle: Gibt es etwas, wo ihr sagen würdet, das würde euch das Leben extrem viel einfacher machen? Ich wünschte, ich könnte ihm unsere Treffen so angenehm wie möglich machen, sodass er entspannt ist und kaum Energie dabei verbraucht. Im Idealfall vielleicht sogar Energie dabei tanken kann (falls sowas überhaupt geht im Beisein anderer Menschen).

    Hilft es, wenn ich vor dem Treffen schon vorab erwähne, worüber ich mit ihm reden will? Ich versuche das manchmal unauffällig einfließen zu lassen ("ich muss dir beim Mittagessen am Freitag noch von meinem letzten Urlaub erzählen und ein paar Bilder zeigen") in der Hoffnung, dass er sich dann schon drauf einstellen kann :) Oder manchmal sage ich vorab schon "erzähl mir am Freitag doch mal von xy (etwas was er gemacht hat)" Oder ist das Quatsch und bringt nichts?

  • Ich denke er hat einfach keine Routine darin von sich aus die Initiative zu ergreifen.

    Aspies haben leider Schwierigkeiten von sich aus die Initiative zu ergreifen. So ist es jedenfalls bei mir. Werde ich von jemand anderem angesprochen und eingeladen sage ich zu, also
    wenn mir die Person sympathisch ist. Ich habe auch beim Telefonieren Schwierigkeiten und weiß nicht wie ich das Gespräch beginnen soll.
    Ich weiß ja nicht ob ihr feste Tage habt, wenn ihr euch seht. Denke, wenn so etwas spontan geschieht könnte er eventuell überfordert sein.
    Vielleicht fragst du ihn ja auch einfach mal, wieso er sich nicht bei dir auch mal von sich aus meldet.

  • Ist es eigentlich auch andersrum so, dass es dir unangenehm ist, wenn sich jemand bei dir meldet? Denn so wirst du "gezwungen" zu reagieren.

    Jein. Kommt auf die Person an, auf den Zeitpunkt. Ich habe in der Verwandschaft so Leute, die extrem viel und lange erzählen, und wenn mich so ein Telefonat aus heiterem Himmel trifft, platzt es ja immer in irgendeinen Punkt meiner Tagesplanung, die dann nicht mehr klappt. Folge: Frust, oder ich geh gar von vornherein nicht ans Telefon, wenn ich bestimmte Namen auf dem Display sehe. E-Mail oder WhatsApp sind da viel besser.

    Idealfall: Ich treffe mich in weiten Abständen mit einer ehemaligen Kollegin zum Quatschen in einer Kneipe. Wir mailen alle paar Monate, machen dann schriftlich einen ungefähren Termin fürs Telefonieren aus. Dann kann ich auch am Telefon mal eine halbe Stunde durchhalten, und schließlich verabreden wir uns für den Kneipenbesuch. Und der wiederum klappt, weil wir uns gegenseitig respektieren und ich nicht so viel maskieren muss, heißt: Ich muss nicht immer Blickkontakt halten, wir unterbrechen uns gegenseitig nicht (es stresst mich, wenn mir ständig jemand ins Wort fällt), und ich kann offen sagen, wenn ich nach Hause gehen möchte.

    @alle: Gibt es etwas, wo ihr sagen würdet, das würde euch das Leben extrem viel einfacher machen? Ich wünschte, ich könnte ihm unsere Treffen so angenehm wie möglich machen, sodass er entspannt ist und kaum Energie dabei verbraucht. Im Idealfall vielleicht sogar Energie dabei tanken kann (falls sowas überhaupt geht im Beisein anderer Menschen).

    Nein, das geht nicht. Soziale Interaktion ist für mich immer kräftezehrend, ermüdend. Aber so wie eine Stunde Joggen einen ja auch in positivem Sinn auspowern kann, so ist es hier auch. In vielen Fällen hab ich schon Spaß am Gespräch mit anderen, vor allem, wenn die Themen ernsthaft sind, auch dann, wenn ich was lernen kann (also einen Gewinn aus dem Gespräch ziehe). Andere soziale Events sind einfach nur unangenehm.

    "Ich kämpfe nicht, ich behaupte mich." - "Ich will nicht siegen, ich will sein." (Georg Kaiser)

  • Ich denke er hat einfach keine Routine darin von sich aus die Initiative zu ergreifen.

    Aspies haben leider Schwierigkeiten von sich aus die Initiative zu ergreifen. So ist es jedenfalls bei mir. Werde ich von jemand anderem angesprochen und eingeladen sage ich zu, also
    wenn mir die Person sympathisch ist. Ich habe auch beim Telefonieren Schwierigkeiten und weiß nicht wie ich das Gespräch beginnen soll.
    Ich weiß ja nicht ob ihr feste Tage habt, wenn ihr euch seht. Denke, wenn so etwas spontan geschieht könnte er eventuell überfordert sein.
    Vielleicht fragst du ihn ja auch einfach mal, wieso er sich nicht bei dir auch mal von sich aus meldet.

    Ja, das kann sein, dass er keine Routine darin hat. Er hat glaub ich keine oder nur wenig Freunde (jedenfalls hat er noch nie von einem Freund erzählt, immer nur von "Bekannten"), von daher hat er vielleicht auch gar keine "Übung" darin sich mal zu melden.
    Wir haben bis jetzt noch keinen festen Tag, aber sobald das mit Corona durch ist, werde ich mit ihm einen festen Tag im Monat ausmachen.
    Ich hab ihn bis jetzt noch nicht gefragt, warum er sich nicht mal meldet, weil ich keinen Druck ausüben will und weil er sich ja eigentlich nicht dafür rechtfertigen braucht.

    Jein. Kommt auf die Person an, auf den Zeitpunkt. Ich habe in der Verwandschaft so Leute, die extrem viel und lange erzählen, und wenn mich so ein Telefonat aus heiterem Himmel trifft, platzt es ja immer in irgendeinen Punkt meiner Tagesplanung, die dann nicht mehr klappt. Folge: Frust, oder ich geh gar von vornherein nicht ans Telefon, wenn ich bestimmte Namen auf dem Display sehe. E-Mail oder WhatsApp sind da viel besser.
    Idealfall: Ich treffe mich in weiten Abständen mit einer ehemaligen Kollegin zum Quatschen in einer Kneipe. Wir mailen alle paar Monate, machen dann schriftlich einen ungefähren Termin fürs Telefonieren aus. Dann kann ich auch am Telefon mal eine halbe Stunde durchhalten, und schließlich verabreden wir uns für den Kneipenbesuch. Und der wiederum klappt, weil wir uns gegenseitig respektieren und ich nicht so viel maskieren muss, heißt: Ich muss nicht immer Blickkontakt halten, wir unterbrechen uns gegenseitig nicht (es stresst mich, wenn mir ständig jemand ins Wort fällt), und ich kann offen sagen, wenn ich nach Hause gehen möchte.

    Nein, das geht nicht. Soziale Interaktion ist für mich immer kräftezehrend, ermüdend. Aber so wie eine Stunde Joggen einen ja auch in positivem Sinn auspowern kann, so ist es hier auch. In vielen Fällen hab ich schon Spaß am Gespräch mit anderen, vor allem, wenn die Themen ernsthaft sind, auch dann, wenn ich was lernen kann (also einen Gewinn aus dem Gespräch ziehe). Andere soziale Events sind einfach nur unangenehm.

    Das klingt ganz gut mit deiner Kollegin... wir haben beim Essen auch wenig Blickkontakt, weil ja jeder die meiste Zeit auf seinen Teller schaut und währenddessen erzählt. Oder wir schauen Fotos oder spazieren etwas rum. Ich hoffe, er hat nicht das Gefühl so viel maskieren zu müssen, meinetwegen braucht er das überhaupt nicht machen. Aber interessant ist, dass du nochmal erwähnst, dass es dir wichtig ist, jederzeit das Treffen beenden und nach Hause gehen zu können. Ich glaub, das hattest du oder jemand anderes letztens auch erwähnt.

    Da fällt mir ein, dass wir uns mal nach der Arbeit auf dem Weihnachtsmarkt getroffen haben. Da war auch das erste, was er sagte, dass er leider früher los müsste. Er nannte keine Uhrzeit. Wir tranken dann 2 Glühwein und dann sagte er nochmal, dass er jetzt aber wie erwähnt gehen müsste. Und als wir uns mal im Sommer nach der Arbeit getroffen haben, musste er auch früher los als wir zuerst geplant hatten. Dachte mir nichts dabei... aber jetzt fällt es mir dann doch auf. Ist das typisch für Autisten? Ich finde es eigentlich selbstverständlich, dass jemand jederzeit "abbrechen" und nach Hause gehen kann. Hast du Angst, dass dein Gegenüber sauer werden könnte oder was ist da deine Befürchtung?

    Kannst du denn neben jemandem sitzen, jeder macht seine eigene Sache und es wird nicht geredet. Ist das für dich auch kräftezehrend? Oder geht das nur bei dir sehr nahe stehenden Personen?

  • Ich komme mal zum ursprünglichen Thema zurück und hoffe, dass das okay ist.
    Ich habe gerade diesen Artikel gelesen über eine Frau, die allein lebt und sich trotz derzeitigen Ausgangsbeschränkungen nicht einsam fühlt. Der Titel ist "Einsamkeit kennt sie nicht", und ich stelle fest, dass es mir da ganz ähnlich geht. Also nicht dass ich keine Einsamkeit kenne, ich kenne sie sehr wohl und war schon sehr sehr oft einsam in meinem Leben. Aber ich muss auch gestehen, dass ich das in letzter Zeit nicht bin. Ich war viel häufiger einsam, wenn ich unter Menschen war, als wenn ich wirklich allein war. Und mit Stille kann ich auch wunderbar umgehen.

    Die Autorin des Artikels stellt die These auf, dass die Protagonistin nicht leidet, weil sie auch vor der "Krise" eine selbstbestimmte Tagesstruktur hatte. Für meinen Fall stimmt das auf jeden Fall. Ich wohne mit zwei Freunden zusammen, das sind im Moment auch meine einzigen Kontakte und ich vermisse die Anderen irgendwie gar nicht. Ich vermisse schon noch meinen Tanzkurs und würde schon gern irgendwann mal wieder auf eine Party gehen, länger draußen sein oder verreisen. Aber ansonsten habe ich das Gefühl, mir fehlt nichts. Mir ist so gut wie nie langweilig, im Gegenteil, ich muss mich jeden Tag entscheiden und Prioritäten setzen, was ich jetzt mache, weil mir vor lauter Möglichkeiten die Zeit kaum reicht ;) Es gibt einfach so viel, das ich noch tun könnte bzw. möchte. Ich habe sehr schnell einen anderen Tagesrhythmus und ein paar Routinen entwickelt, ich bin viel ruhiger und ausgeglichener als davor. Andere Menschen waren wohl mehr ein Stressfaktor als eine Freude für mich.

  • Und wenn du 100%ig sicher bist, dass der Kontakt gewünscht ist …

    wenn ich mal von mir ausgehe, so eine Sicherheit gibt es nicht, bei zwei drei Menschen bin ich nahe dran, aber bei neuen sozialen Kontakten bin ich ziemlich lange ziemlich unsicher und mache mir einen Kopf und setze mich unter Stress, womit wir dann bei den negativen Auswirkungen sind

    Das kommt noch hinzu, dass er manchmal so große Schritte machen kann (wieso klappt das, dass er den gemeinsamen Urlaub vorschlagen konnte, aber ein normaler Kaffee zwischendurch auf der Arbeit geht nicht?), aber so an "Kleinigkeiten" scheitert es. Versteh ich nicht.

    ist schwer zu verstehen aber kann so sein. ich schaffe manchmal auch einen großen Schritt und oft nichtmal kleine

    Einmal editiert, zuletzt von Pechblende (18. April 2020 um 20:11)

  • Ich wohne mit zwei Freunden zusammen, das sind im Moment auch meine einzigen Kontakte und ich vermisse die Anderen irgendwie gar nicht.

    Du wohnst mit zwei (!) Freunden zusammen, natürlich bist du da nicht einsam, zwei Kontakte sind eine Menge. Versuch mal allein zu leben und tage- oder wochenlang mit niemandem zu reden.

    Una est catena quae nos alligatos tenet, amor vitae

  • Du wohnst mit zwei (!) Freunden zusammen, natürlich bist du da nicht einsam, zwei Kontakte sind eine Menge. Versuch mal allein zu leben und tage- oder wochenlang mit niemandem zu reden.

    Ähm, das habe ich schon vor Jahren. Hat super geklappt.

  • Aber der Kontakt geht wirklich niemals von ihm aus.

    Er hat sich gestern Abend bei mir gemeldet!! 8o Einfach so, von sich aus. Ohne, dass ich ihn darum gebeten hätte (im Gegenteil, wir haben uns wegen Corona seit über 3 Monaten nicht mehr gesehen und auch seit über 6 Wochen nicht mehr gesprochen oder geschrieben). Ich kann es selbst noch nicht glauben... Wir haben sogar eine halbe Stunde gechattet, so lang wie noch nie zuvor.

    Ich hatte in letzter Zeit echt mit dem Gedanken gespielt den Kontakt abzubrechen, wenn wir uns das nächste Mal gesehen hätten, weil ich damit nicht klar kam, dass er selbst zu Corona überhaupt kein Bedürfnis nach Kontakt hatte. Aber jetzt kann ich natürlich auch wieder die nächsten Schritte machen, die Treffen der nächsten Male ausmachen usw... mir war's halt wichtig, dass auch mal was von ihm kam. Und das kam jetzt :) Kann es echt noch nicht fassen. Stelle ihm demnächst wirklich einen monatlichen Termin zum Essen ein, mal sehen wie er darauf reagiert.

    Das musste ich euch einfach mitteilen. :)

    Ich hab ihm gestern schon geschrieben, dass ich mich sehr freue, dass er sich gemeldet hat. Meint ihr das reicht? Oder soll ich es ihm beim nächsten Treffen nochmal persönlich sagen?
    Ich will nicht, dass es übertrieben rüberkommt. Aber vielleicht ist es ja auch richtig, dass ich es nochmal erwähne... eben weil ich mich nicht nur "freue", sondern weil's echt was Besonderes ist.

  • Ich wohne mit zwei Freunden zusammen, das sind im Moment auch meine einzigen Kontakte und ich vermisse die Anderen irgendwie gar nicht.

    Dann hat man ja ständig Kontakte um sich.

    Mit Freunden zusammenzuwohnen, kann ich mir gar nicht vorstellen. Höchstens noch mit einem Partner, aber der muss eben sehr ähnlich sein und die Wohnung groß genug.

  • Mit Freunden zusammenzuwohnen, kann ich mir gar nicht vorstellen. Höchstens noch mit einem Partner, aber der muss eben sehr ähnlich sein und die Wohnung groß genug.

    Für mich macht der Unterschied zwischen "Freund" und "Partner" überhaupt keinen Sinn.

    Dann hat man ja ständig Kontakte um sich.

    In meinem Fall nicht, die meiste Zeit bin ich allein, da sie entweder arbeiten oder schlafen. Am Wochenende sehen wir uns aber viel.

  • Für mich macht der Unterschied zwischen "Freund" und "Partner" überhaupt keinen Sinn.

    Es gibt da so zwei Wörter die das Verhältnis schon deutlich unterschiedlich definieren. Liebe und Sex. Gut bei Sex gibt's ja "Freundschaft plus" aber im Normalfall findet der zwischen Freunden nicht statt. Und Liebe, hier bei Wohnangelegenheiten, heißt dies wohl Bett, Teller auch mal Zahnbürste (nur im Notfall!) teilen. In einer FreundesWG ist dies wohl aus die Ausnahme.

  • Es gibt da so zwei Wörter die das Verhältnis schon deutlich unterschiedlich definieren. Liebe und Sex. Gut bei Sex gibt's ja "Freundschaft plus" aber im Normalfall findet der zwischen Freunden nicht statt. Und Liebe, hier bei Wohnangelegenheiten, heißt dies wohl Bett, Teller auch mal Zahnbürste (nur im Notfall!) teilen. In einer FreundesWG ist dies wohl aus die Ausnahme.

    Es gibt auch asexuelle Beziehungen. Und freundschaftliche Liebe ist auch Liebe, für mich zumindest.

  • Für mich macht der Unterschied zwischen "Freund" und "Partner" überhaupt keinen Sinn.

    Es gibt auch asexuelle Beziehungen. Und freundschaftliche Liebe ist auch Liebe, für mich zumindest.

    Ich finde nicht, dass freundschaftliche Gefühle das Gleiche wie Liebe zwischen Partnern (in einer guten Beziehung!) ist, aber das kann natürlich jeder unterschiedlich empfinden.
    Eine Beziehung kann natürlich asexuell sein, trotzdem ist eine Beziehung definitiv etwas anderes wie eine Freundschaft. Eine Beziehung ist meistens exklusiv und hat auch eine größere Verbindlichkeit. In einer Beziehung lebt man irgendwie zusammen, auch wenn man sich nicht unbedingt eine Wohnung teilt. In einer Beziehung übernimmt man Verantwortung füreinander, in einer Freundschaft in viel geringerem Ausmaß.
    Für mich ist der ideale Partner auch ein guter Freund, aber ein guter Freund kein Partner. ;)

  • Ich finde nicht, dass freundschaftliche Gefühle das Gleiche wie Liebe zwischen Partnern (in einer guten Beziehung!) ist, aber das kann natürlich jeder unterschiedlich empfinden.
    Eine Beziehung kann natürlich asexuell sein, trotzdem ist eine Beziehung definitiv etwas anderes wie eine Freundschaft. Eine Beziehung ist meistens exklusiv und hat auch eine größere Verbindlichkeit. In einer Beziehung lebt man irgendwie zusammen, auch wenn man sich nicht unbedingt eine Wohnung teilt. In einer Beziehung übernimmt man Verantwortung füreinander, in einer Freundschaft in viel geringerem Ausmaß.
    Für mich ist der ideale Partner auch ein guter Freund, aber ein guter Freund kein Partner.

    Das sehe ich genauso. Bei einer Beziehung, so wie ich sie verstehe, ist miteinander voll solidarisch, nicht nur ökonomisch. Dazu muss man weder zwingend sexuell aktiv sein noch in einem Haushalt leben. Aber man sieht sich als zueinander gehörig und steht füreinander ein. Natürlich kann das auseinander gehen, doch das ist dann eine Art Verlust, der quasi nahezu mit dem Tod eines nahestehenden Menschen zu vergleichen ist. Es gibt Freundschaften, die ähnlich eng und verbindlich sind. Meinem Eindruck nach ist das jedoch eher eine Minderheit. Ich würde den Anspruch an Freundschaft auch generell nicht so hoch hängen. Ich kann einen Menschen beispielsweise auch dann als guten Freund empfinden, wenn ich weiß, dass er mir niemals Geld leihen würde. Bei einer Partnerschaft gehört für mich Solidarität auch bei solchen Dingen dazu. Zudem gibt es bei manchen guten Freundschaften zwar auch echte Trennungen, oft jedoch verliert man einfach den Kontakt, etwa, weil der gemeinsame Kontext fehlt. Die meisten Menschen, mit denen man befreundet ist, haben Menschen in ihrem Leben, die ihnen deutlich näher stehen als man selbst, neben dem Partner die eigenen Eltern und Kinder, oft aber auch Geschwister, Nichten und Neffen. Hat man das nicht (oder wird es perspektivisch im späteren Lebensalter nicht haben), dann kann es empfehlenswert sein, gezielt Freundschaften mit anderen alleinstehenden kinderlosen Menschen zu suchen. Diese Freundschaften können dann in der Tat größere Solidarität implizieren. Allerdings endet dies zumeist, sobald der andere doch noch einen Partner findet, und das kann dann recht schmerzhaft sein (was nicht heißt, dass man es dem anderen missgönnen würde). Bei älteren Frauen jedoch ist die Wahrscheinlichkeit, dass das noch passiert, nicht so groß, da können sich Gemeinschaften von großer Solidarität bilden. Autistinnen jedoch passen da auch nicht unbedingt so leicht rein.

    From my youth upwards my spirit walk'd not with the souls of men. (...)
    My joys, my griefs, my passions, and my powers, made me a stranger.

  • In einer Beziehung übernimmt man Verantwortung füreinander, in einer Freundschaft in viel geringerem Ausmaß.

    Hm, ja, dann tun wir aber schon seit über 10 Jahren. Romantische Beziehungen haben bei mir nie so lang gehalten.

    Das sehe ich genauso. Bei einer Beziehung, so wie ich sie verstehe, ist miteinander voll solidarisch, nicht nur ökonomisch. Dazu muss man weder zwingend sexuell aktiv sein noch in einem Haushalt leben. Aber man sieht sich als zueinander gehörig und steht füreinander ein. Natürlich kann das auseinander gehen, doch das ist dann eine Art Verlust, der quasi nahezu mit dem Tod eines nahestehenden Menschen zu vergleichen ist. Es gibt Freundschaften, die ähnlich eng und verbindlich sind. Meinem Eindruck nach ist das jedoch eher eine Minderheit.

    Ja, das trifft auf uns aber auch alles zu. Ich kenne sie seit 13 Jahren, wir leben seit ca. 10 Jahren zusammen und stehen füreinander ein.
    Okay, ich muss sagen, ich bin mit niemandem voll, im Sinne von 100%, solidarisch. Wenn es um den moralischen Charakterkern geht, dann kann ich irgendwann nicht mehr solidarisch sein. Aber für die restlichen 90+% Solidarität macht es für mich keinen Unterschied, ob die Beziehung romantisch oder freundschaftlich ist.
    Ja, ich weiß schon, ich bin eine Minderheit. Aber ich existiere :) Unsere Beziehungskonzepte sind nichts Natürliches, und man kann darüber reflektieren und sich für andere Beziehungen entscheiden als die Mehrheit. Warum soll ich einer Norm entsprechen, die mich unglücklich macht, wenn es doch auch niemadem schadet, wenn ich mir selbst andere Normen setze?

    Ich würde den Anspruch an Freundschaft auch generell nicht so hoch hängen.

    Verstehe ich. Ich würde aber die Ansprüche an einer so genannte Partnerschaft (ich hasse das Wort, das klingt, als hätte man eine Firma gegründet) nicht so hoch hängen. Aus meiner Erfahrung haben viele Leute zu viel Hollywood-Filme geschaut und dazu noch zeit ihres Lebens ein bisschen viel westlich-neoliberalen Individualismus inhaliert: Eine märchenhaft perfekte Person soll sich finden, mit der man dann alles teilt, die dann immer da ist und alle Bedürfnisse erfüllt usw. Da kann man doch nur zusammenbrechen, wenn man das alles erfüllen soll.


    Die einzige Person, an die ich realistischerweise Ansprüche stellen kann, bin ich. Und mit dieser Frage habe ich mich viel mehr beschäftigt, als mir zu überlegen, welche Leute ich denn bestellen würde, wenn es einen Beziehungskatalog gäbe :sarcasm: Wer bin ich, was bin ich für eine Freundin, was kann ich, was kann ich nicht, wie bin ich zu anderen Menschen? Ich glaube, die meisten Menschen, die sich einsam und übergangen fühlen, sollten einmal mitbedenken, dass Beziehungen eine Kombination aus Zufall, gesellschaftlicher Faktoren und harter Arbeit sind. Den ersten Faktor kann man leider nicht ändern, den zweiten nur kollektiv, langsam und auch dann nicht sicher, aber den dritten kann man durchaus ändern. Das ist es zumindest, was ich glaube.

    Hat man das nicht (oder wird es perspektivisch im späteren Lebensalter nicht haben), dann kann es empfehlenswert sein, gezielt Freundschaften mit anderen alleinstehenden kinderlosen Menschen zu suchen. Diese Freundschaften können dann in der Tat größere Solidarität implizieren. Allerdings endet dies zumeist, sobald der andere doch noch einen Partner findet, und das kann dann recht schmerzhaft sein (was nicht heißt, dass man es dem anderen missgönnen würde).

    Ich sehe in deiner Perspektive eine starke Priorisierung und Höherbewertung der Familie. Nun, das ist leider für viele Menschen nicht möglich, weil ihre Familien schädlich und/oder gewalttätig sind. Warum soll ich mir eine Familie suchen, wenn meine Familie so krass schlimm war? Ich habe mich lange genug irgendwie unvollständig und irgendwie verdammt gefühlt, irgendwann habe ich einfach aufgehört (nicht einfach so, klar, ich habe daran gearbeitet). Familie bedeutet mir einfach nichts mehr, und meine Freund sind auch keine Ersatzfamilie oder Wahlfamilie (das würde ja heißen, dass sie eine 2. Wahl wären). Sie sind in allererster Linie meine Freunde und Selbstzweck. Ich habe sie nicht gezielt gesucht, um irgendwelche Löcher in meinem Leben oder meiner Persönlichkeit zu stopfen, das wäre mir alles viel zu instrumentalistisch.
    Einer von ihnen hat übrigens seit Jahren eine romantische Beziehung zu einer Frau, das hat uns übehaupt nicht geschadet, wir verstehen uns (mittlerweile, da das alles harte Arbeit ist, siehe oben :) ) super, ich finde es toll, dass sie da ist.

    Ich bin natürlich nicht immer glücklich (noch nicht mal oft), aber doch insgesamt sehr oft zufrieden. Und natürlich wäre es für mich (gerade als Homo-Frau) besser, auch eine Freundin oder Freundinnen zu haben. Aber ich weiß auch, dass ich einen kleinen Anteil Eigenverantwortung daran habe, weil ich einfach schon zu viel über mich selbst erfahren habe, um mich weiter auf jede Frau einzulassen, und ich Kennenlernversuche manchmal sogar gezielt unterbinde. Alle meine Freundinnen sind deshalb weg, weil sie keinen Bock (RW) zu arbeiten hatten, weil sie eine Freundin "aus dem Katalog" wollten, und ja, (ich versuche gerade, zurück zum eigentlichen Thema zu kommen) solche sozialen Kontakte sind für mich auf Dauer leider schädlich. Ich habe lieber doch keine Freundin, als eine, die nicht bereit ist, auch mal an andere zu denken und zu reflektieren und es immer nur gut und alles für sich haben möchte.

  • Zitat von doxa

    Ich glaube, die meisten Menschen, die sich einsam und übergangen fühlen, sollten einmal mitbedenken, dass Beziehungen eine Kombination aus Zufall, gesellschaftlicher Faktoren und harter Arbeit sind. Den ersten Faktor kann man leider nicht ändern, den zweiten nur kollektiv, langsam und auch dann nicht sicher, aber den dritten kann man durchaus ändern. Das ist es zumindest, was ich glaube

    Zitat von doxa

    Ich habe sie nicht gezielt gesucht, um irgendwelche Löcher in meinem Leben oder meiner Persönlichkeit zu stopfen, das wäre mir alles viel zu instrumentalistisch.

    Zitat von doxa

    weil ich einfach schon zu viel über mich selbst erfahren habe, um mich weiter auf jede Frau einzulassen, und ich Kennenlernversuche manchmal sogar gezielt unterbinde. Alle meine Freundinnen sind deshalb weg, weil sie keinen Bock (RW) zu arbeiten hatten, weil sie eine Freundin "aus dem Katalog" wollten, und ja, (ich versuche gerade, zurück zum eigentlichen Thema zu kommen) solche sozialen Kontakte sind für mich auf Dauer leider schädlich. Ich habe lieber doch keine Freundin, als eine, die nicht bereit ist, auch mal an andere zu denken und zu reflektieren und es immer nur gut und alles für sich haben möchte.

    Kann ich unterschreiben, nur aus der Perspektive der 97%-Hetro-Frau.

    Alle Freundschaften, die über die Jahre enstanden sind, hatten auch den Anteil "harte Arbeit an der Freundschaft", ganz ohne über Freundschaft hinausgehende Beziehungswünsche.

    Früher habe ich zwar daraufgeachtet, "meinen Teil" darin bezutragen, nur dann immer mehr übernommen - so nach dem Motto "wenns keiner macht, dann eben ich". Was ja spätenstens da endet, wo beim Gegenüber "innere Arbeit" notwendig wird.

    Inosfern ergänze ich dieses "auch mal an andere denken" um den Willen und konkrete Umsetzung, an sich zu arbeiten. Udn das nicht "für die Freundschaft, bzw die Partnerschaft", sondern prinzipiell.

    Wie schädlich es sein kann, wenn das beim anderen nicht vorhanden ist zeigt sich oft nicht nur bei einem selbst in psychsichen Folgen, sondern kann dann auch ganz real sehr unschön werden.
    Es gibt nichts, was mehr Hass und auch reale Angriffe auslöst, von Rufmord bis stalking, als wenn jemand "gefordert" ist, an sich zu arbeiten, der*die das nicht will.

    Wobei dann ziemlich egal ist, ob man selbst den Kontakt abbricht, weil man die fehlende Selbstreflexion und den fehlenden Willen zur "Freundschafts/Beziehungsarbeit" nicht vorher erkannt hat, oder von der anderen Seite abgebrochen wird, weil dort dieses "mich nicht ändern wollen" reflexhaft hochkommt und jeglicher Hinweis auf "an sich arbeiten" als "unzumutbare Zumutung durch den*die andere" betrachtet wird. Die "Schuldzuschreibung" erfolgt auf jeden Fall.

    Mit den Menschen, die Freunde wurden und blieben, passiert anderes, wenn es mal schiefgeht und auch kracht. Danach wird hingeschaut "WAS" schiefgelaufen ist, aus beiden Perspektiven, ohne Schuldzuweisungen. Um dann gemeinsam zu überlegen, wie beim nächsten mal anders umgehen, wenn es ähnlich beginnt. Was zwar auch nicht immer klappt, aber dann zumindest unter "dumm gelaufen, aber menschlich" abgehakt werden kann, um es beim nächsten mal besser hinzukriegen.
    Ohne sich "für den*die andere "irgendwie ändern" zu müssen".
    Weil grundsätzlich eben schon was Gemeinsames da war. Eigenarbeit an sich und Wille zu "Beziehungsarbeit", weil auch auf den*die andere*n geschaut wird.

    Je weniger davon grundsätzlich vorhanden, desto anstrengder schon bei "lockeren Bekanntschaften" und desto schädlicher für mich, je näher das wird.

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