• Zitat von Höhn

    Das schlimme an ABA ist, dass die Methoden so subtil eingesetzt werden, dass es für Betroffene und Angehörige oftmals schwer ist, dies als ABA einzustufen.

    Wie geht das, extreme Anwendung von Konditionierung und militärisch anmutenden Drill so subtil zu machen?

    Vielleicht weil es dann gar keine extreme Anwendung oder militärischer Drill ist? Nicht jede Verhaltenstherapie ist böse, auch nicht jede Form von ABA, aber die Autisten steigern sich da immer so sehr in ihre Gefühle rein und suchen sich ihr Feindbild, dass sie gar nicht mehr logisch oder sachlich etwas beurteilen können.
    Man kann ja schon grundsätzlich in Frage stellen, ob und inwieweit es sinnvoll ist, autistische Verhaltensweisen abzutrainieren. Aber ich glaube, diese Diskussion findet unter Fachleuten schon längst statt. Bereits jetzt ist in Fachkreisen anerkannt, dass Stimming eine Coping-Strategie ist, die nicht unterbunden werden muss, es sei denn, es ist selbstschädigend.
    Es ist aber auch so, dass bei schwerer eingeschränkten Autisten manche Fähigkeiten tatsächlich erzwungen werden müssen, die diesen Autisten aber später das Leben erleichtern. Zum Beispiel ist eine Voraussetzung für Lernen und Kommunikation, dass man grundsätzlich zumindest kurz Blickkontakt aufnimmt. Das macht ein frühkindlicher Autist aber unter Umständen nicht freiwillig, also muss man das einüben. Wenn das dann funktioniert, kann man erst weitere Dinge erreichen, wie eine einfache Kommunikation über Bildkarten o.ä. Das wiederum macht das Leben für den Autisten einfacher, weil er jetzt mitteilen kann, was er möchte oder nicht möchte.
    Ich würde mir in der Hinsicht wünschen, dass hochfunktionale/Asperger-Autisten nicht vorschnell über Therapien urteilen, die sie selbst höchstwahrscheinlich gar nicht betreffen und von denen sie auch nicht viel aus eigener Erfahrung wissen. Sich empören geht immer schnell, aber die Dinge sind meistens nicht so schwarz-weiß zu beurteilen.

    Früher war ABA sicher eine schlechtere Methode als heute, und es hängt immer stark davon ab, wer es macht und welche Haltung er/sie hat.


    Die Studie der Uniklinik Marburg finde ich auch nicht unbedingt sinnvoll, weil man, wenn es um Hilfe für Autisten geht, nicht mit den Kosten argumentieren sollte, sondern allein mit dem Nutzen für die Autisten, ein besseres Leben führen zu können. Dann kommt es gar nicht darauf an, welche Kosten dadurch gleichzeitig eingespart werden können. Aber möglicherweise braucht man solche Daten tatsächlich, um Gelder für die Förderung von Autisten locker machen zu können? Nichtsdestotrotz hätte ich bei der Formulierung der Studie dann auf einen besseren Text geachtet. "Lebenszeitkosten" klingt halt schon sehr nach 3. Reich, man möchte sich nicht vorstellen, dass die AfD so eine Studie in Auftrag gibt. Aber ich gehe mal davon aus, dass die Motive wirklich nur die sind, Gelder locker machen zu können mit der Begründung, dass es ohne Förderung noch mehr Geld kostet. Zum Beispiel könnte man ja endlich mal an das Thema herangehen, dass die Krankenkassen keine Therapie für Autismus zahlen. Das ist eigentlich schon lange ein Unding, was geändert werden müsste.

    Historisch gesehen waren die schrecklichsten Dinge wie Krieg, Genozid oder Sklaverei nicht das Ergebnis von Ungehorsam, sondern von Gehorsam.
    (Howard Zinn)

  • Vielleicht weil es dann gar keine extreme Anwendung oder militärischer Drill ist? Nicht jede Verhaltenstherapie ist böse, auch nicht jede Form von ABA, aber die Autisten steigern sich da immer so sehr in ihre Gefühle rein und suchen sich ihr Feindbild, dass sie gar nicht mehr logisch oder sachlich etwas beurteilen können.

    Genau so ist es. Bei den Reaktionen handelt es sich viel zu oft um völlig undifferenzierte Protestkundgebungen, die dazu auch noch auf gefährlichem Halbwissen und unflexiblen, persönlichen Aversionen basieren. Und da wird sich dann mit Scheuklappen drin verrannt ohne noch einmal nach links oder rechts zu schauen.

    Man kann und sollte Teile von ABA durchaus kritisieren, letztendlich kommt es aber darauf an was davon und wie es umgesetzt wird. Das kann nämlich auch durchaus human und individuell gewinnbringend geschehen.

    Der Begriff "Lebenszeitkosten" ist in der Forschung und Wirtschaft ein häufig genutzter, neutral zu bewertender Begriff. Aus menschlicher, emotionaler Sicht betrachtet mag er etwas unglücklich wirken und ich kann verstehen wenn man sich darüber echauffiert. Da gäbe es möglicherweise humanere Umschreibungen. Aber da wünsche ich mir eigentlich auch bei fast jedem Brief einer Behörde etwas weniger Versachlichung.

    ~ Einmal entsandt, fliegt das Wort unwiderruflich dahin ~
    Quintus Horatius Flaccus

  • Zudem konnte ich bei dem im Artikel verlinkten Forschungsverbund (ASD-Net) keinerlei Bezug zu ABA erkennen.

    Solche Kostenrechnungssachen in Bezug auf die Versorgung Behinderter finde ich persönlich zwar auch grauslich, aber weder der Bezug zu ABA ist gegeben, noch ist das verlinkte Projekt Frau Kamp-Becker bzw. der Marburger Ambulanz zuzuordnen, wie im Artikel suggeriert. Als Projektleiter sind angegeben Falk Hoffman (Universität Oldenburg) und Christian Bachmann (LVR-Klinikum Düsseldorf).

    Unter den Therapieprojekten des ASD-Nets finde ich nur Untersuchungen zu Oxytocin und sozialen Kompetenztrainings. Falls Frau Kamp-Becker "unter dem Deckmantel vom ASD-Net [...] massiv ABA [...] verstärkt und unterstützt", wie im Artikel behauptet, so tut sie das zumindest nicht auf der verlinkten Website des ASD-Net.

    “The amount of energy needed to refute bullshit is an order of magnitude bigger than to produce it.”
    ― Alberto Brandolini

  • Zum Beispiel ist eine Voraussetzung für Lernen und Kommunikation, dass man grundsätzlich zumindest kurz Blickkontakt aufnimmt.

    Ganz unabhängig von den angewandten Methoden:
    Meiner Ansicht nach stimmt das so nicht. Voraussetzung ist die gemeinsame Aufmerksamkeit auf das zu Lernende oder auf die Kommunikation. Viele Menschen ziehen den Blickkontakt als Indiz dafür heran, dass die Aufmerksamkeit da ist, das kann man aber z.B. auch durch eine verbale Rückmeldung ("Ich höre zu"), oder bei nonverbalen Menschen durch andere Anzeichen feststellen, wie zugewandt sein, im Tun innehalten, oder andere individuelle Anzeichen. Im Zweifelsfall könnte man auch andere nonverbale Zeichen für "ich höre dir zu" einüben. Entscheidend ist aber, die Aufmerksamkeit des Kindes zu gewinnen, und nicht, Blickkontakt herzustellen.

    Zum Sprechen lernen kann es hilfreich sein, den Blick des Kindes auf den Mund des Kommunikationspartners zu lenken, aber nicht zwingend auf die Augen. Im Gegenteil kann das Erzwingen von (auch kurzem) Blickkontakt unnötig kognitive Ressourcen beim Kind binden. Blickkontakt ist meines Erachtens erst zwingend nötig, wenn es um die Entschlüsselung sozialer Signale geht. Dafür muss der Mensch aber erst einmal von der Entwicklung her dazu bereit sein, damit er davon nicht überfordert wird.

    “The amount of energy needed to refute bullshit is an order of magnitude bigger than to produce it.”
    ― Alberto Brandolini

    3 Mal editiert, zuletzt von Turtle (29. Januar 2020 um 12:35)

  • Blickkontakt war dann der falsche Ausdruck. Was ich meinte ist, dass das Kind aufschaut, um überhaupt wahrnehmen zu können, was der Erwachsene macht. Ob das jetzt genau in die Augen geht, kann offen bleiben. Zum Beispiel, wenn man dem Kind einige einfache Gebärden beibringen wollen würde, dann müsste das Kind erst einmal diese Gebärden sehen können. Wenn das Kind gar keinen Kontakt aufnimmt, dann geht es nicht.
    Also im Grunde ist es Aufmerksamkeit, so wie du es auch schreibst.

    Historisch gesehen waren die schrecklichsten Dinge wie Krieg, Genozid oder Sklaverei nicht das Ergebnis von Ungehorsam, sondern von Gehorsam.
    (Howard Zinn)

  • Zitat von Turtle

    Meiner Ansicht nach stimmt das so nicht. Voraussetzung ist die gemeinsame Aufmerksamkeit auf das zu Lernende oder auf die Kommunikation.

    Dies halte ich für einen wichtigen Hinweis. Meiner Meinung nach geht eine geteilte Aufmerksamkeit durch erzwungenen Blickkontakt sogar verloren, als dass sie hergestellt wird. Wenn mich jemand zu Blickkontakt zwingt, würde ich innerlich so aggressiv werden, dass ich nur noch Hass empfinden würde. Dann wäre das Gefühl 'Hass' zwar auch verbindend, aber ich glaube nicht, dass das so gedacht ist. :lol:
    Ich finde auch, dass eine gemeinsame Aufmerksamkeit durchaus nicht mittels Blickkontakt und auch nicht immer mittels Sprechen stattfinden muss. Aber das sind vermutlich die Standard-Kommunikationsformen, an denen man misst, ob jemand zur Kommunikation fähig ist. :|
    In der Musiktherapie und Körpertherapie gibt es viele Ansätze zur geteilten Aufmerksamkeit und Synchronizität.

  • Entscheidend ist aber, die Aufmerksamkeit des Kindes zu gewinnen, und nicht Blickkontakt herzustellen.

    Stimmt genau. Ich bin zwar "nur" VA, aber als Kind und zum Teil auch heute baue ich nur sehr selten Blickkontakt auf, wenn ich für irgendwas aufmerksam sein soll. Im Grunde finde ich Blickkontakt auch sehr unangenehm und irgendwie unnatürlich.
    Umgekehrt war ich auch nicht immer aufmerksam, wenn Blickkontakt von meiner Mutter "erzwungen" wurde. Mental war ich dann trotzdem immernoch halb in meiner eigenen Welt. Selbst heute schaue ich dann heute nur in die ungefähre Richtung und nur eher selten direkt auf den Kopf des Gesprächspartners. Nämlich dann wenn es absolut unumgänglich ist, weil ich irgendwas erreichen will.

    Wenn man auf eine Party geht, gibt es immer ein Risiko.

    Unsere Identität entnehmen Sie bitte dem beigefügten Auszug aus dem Melderegister. Gegen die Assimilierung in unser Kollektiv ist gemäß Assimilierungsdurchführungsgesetz (§666, Abs. 3/IV) kein Rechtsmittel zulässig. Wir bitten um Ihr Verständnis.

  • Wenn ich Blickkontakt halten muss, dann denke ich nur noch an diesen Blickkontakt und an nichts anderes mehr. Und das auch nach dem Blickkontakt noch. Wie soll dadurch eine Gemeinschaftlichkeit entstehen können?

    Jedes mal, wenn man mir sagt, ich wäre nicht gesellschaftsfähig,
    werfe ich einen Blick auf die Gesellschaft und bin überaus erleichtert.

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