• Ich danke auch für die neuen Antworten. Es tut mir leid, dass ich nur unstrukturiert nach und nach auf einzelne Dinge eingehen kann.

    Zugleich bin ich allerdings Anhängerin des sozialen Modells von Behinderung, [..] Nicht nur für Autisten, auch ein Gelähmter wird beispielsweise in Deutschland viel weniger behindert als in einem Land [..]

    Ich möchte das nicht als Widerspruch verstanden wissen. Ich kann mir aber sehr gut vorstellen, dass man als Autist in einer anderen Kultur (und vielleicht zu einer anderen Zeit) keinesfalls als behindert gilt, im Gegensatz zu einem Gelähmten, der tatsächlich überall gelähmt wäre. Vielleicht würde man ihn (den Autisten) sogar als eine Art Heiligen sehen, der sich nicht so sehr für die weltlichen Dinge zu interessieren scheint, dafür aber viel im Inneren sucht. Vielleicht würde ihm die gesellschaftliche Rolle eines Schamanen o.ä. zuteil. Und selbst in unserer Gesellschaft scheint man ihn zunehmend eher als eine Art Joker zu verstehen, wenn ich mir anschaue, wie große Unternehmen für Ihre IT gezielt Autisten suchen. Bei Gehbehinderten tun sie das nicht, also scheinen Behinderungen nicht gleich Behinderungen zu sein. Was ich in diesem Kontext aber natürlich verwerflich finde, sie sollten auch gezielt Gehbehinderte einstellen.

    Und nein, ich bin nicht der Ansicht, dass Autismus für manche Menschen vollkommen auflösbar ist.

    Ich stimme Dir hierin wahrscheinlich zu. Ich schrieb im Ausgangsposting aber auch:

    Autismus im Sinne von klinisch relevanten Einschränkungen [..] vollständig auflösbar.

    Das sollte heißen, dass es möglich ist, dass die Diagnose zu einem späteren Zeitpunkt nicht mehr gestellt werden kann.

    Attwood sagte wohl mal, zumindest lese ich es so im Buch von Wilczek, dass Autismus ein 100-Teile-Puzzle sei. Mit 20 bis 30 Puzzleteilen davon laufen alle herum. Interessant im diagnostischen Sinne wird es bei 60-80 Puzzleteilen von 100.

    Es sollte also auch eigentlich gar nicht darum gehen, auf 0 zu kommen.

    Danke für Dein Statement zu "Sinnstiftungsmodellen".

  • Zitat von L84

    Das sollte heißen, dass es möglich ist, dass die Diagnose zu einem späteren Zeitpunkt nicht mehr gestellt werden kann.

    Ich bin ja da kein Experte und beschäftige mich noch nicht lange mit dem Thema, aber in dem Zusammenhang spielt denke ich wieder der Unterschied zwischen dem impairment und der disability eine große Rolle, wie @Leonora ihn schon beschrieben hat:

    Zitat von Leonora

    Zugleich bin ich allerdings Anhängerin des sozialen Modells von Behinderung, sehe die Behinderung nicht ausschließlich in der Person verortet, sondern in wesentlichen Teilen in der Wechselwirkung zwischen Person und Rahmenbedingungen. Nicht nur für Autisten, auch ein Gelähmter wird beispielsweise in Deutschland viel weniger behindert als in einem Land, wo es für die einfache Bevölkerung kaum Rollstühle gibt und barrierefreie Verkehrsmittel schon gar nicht. Die Einschränkung (impairment) ist die gleiche, die daraus in Kombination mit den Rahmenbedingungen resultierende Behinderung (disability) eine vollkommen andere als in einem Land, wo er - mit Glück - in der Hütte von Verwandten auf dem Boden lehnt oder liegt.


    Beim Autimus bleibt das impairment (= abweichende Reizverarbeitung?) ein Leben lang bestehen (zumindest nach aktuellem Forschungsstand).
    Die daraus resultierende disability verändert sich aber mit den Lebensumständen.

    Anders als bei dem Gelähmten bzw. körperlichen Behinderungen im Allgemeinen ist es aber beim Autimus ja so, das bei der Diagnose zu großen Teilen auf die disability bzw. auf die üblichen Reaktionen darauf geschaut wird und nicht auf das impairment direkt.

    Daraus ergibt sich dann bei Menschen, dessen impairment sich im Grenzbereich befindet wohl die Unschärfe in der Diagnose. Da kommt mir dann wieder die philosophische Frage, ob die Diagnosekriterien als Hilfsmittel zu verstehen sind, um Rückschlüsse auf das impairment zu ziehen oder ob die disability, die sich in den Kriterien zeigt, tatsächlich der Endpunkt ist, den man messen will.

    2 Mal editiert, zuletzt von Shaluna (28. Januar 2020 um 09:01)

  • Ich scheine bloß - anders als Du - aufwendige philosophische Konzepte zu brauchen, um dort hinzukommen.


    Es ist generell einfacher, sich Dinge zu erklären, wenn man religiöse und esoterische Ideen weglässt. Auch mit Philosophie kann ich nicht arg viel anfangen.
    Ein Beispiel: man fragt sich manchmal "warum hab ich diese scheiß Behinderung, warum gerade ich?"
    Die Antwort ohne Religion und Esoterik ist relativ einfach: tja, blöd gelaufen. Zufall. Andere haben sonst irgendwas. Die MS von meiner Nachbarin würde ich auch nicht haben wollen. Ist eben so.
    Mit Religion und Esoterik fängt man an, sich in unbewiesene Annahmen zu verstricken: habe ich in meinem vorherigen Leben irgendwas falsch gemacht? Werde ich bestraft? Soll ich irgendwas lernen? Was?
    Abgesehen vom Schuldkomplex, den man sich damit sehr leicht einreden kann, helfen alle diese Annahmen überhaupt nicht weiter. Anstatt gegen sich zu arbeiten, sollte man sich lieber annehmen und sich grundsätzlich für gut befinden. Verbessern in einzelnen Punkten kann man sich dann trotzdem noch. Aber aus Religion und Esoterik können echt "irre" Ideen entstehen, die auch Blüten treiben können, wenn man sich die Geschichte der Religion anschaut. Insbesondere Selbstbestrafung scheint in vielen Religionen ein wesentlicher Bestandteil zu sein. Ich finde es wichtiger und besser, sich zu bemühen, die Welt so zu sehen, wie sie ist, weil man damit Probleme am besten und exaktesten erfassen und daran arbeiten kann.
    All diese unbewiesenen Annahmen, wie dass es ein lenkendes Wesen gäbe, das irgendwas erwartet, oder ein System, das hinter allem steckt, sind nicht nur unbewiesen, sondern es gibt sogar starke Indizien dagegen. Also kann man problemlos darauf verzichten und versuchen, einfach mehr für sich selbst zu tun, damit man glücklich wird.

    Zitat

    Und: vielleicht bedeutet dieses Annehmen für mich dann auch einfach, gar nicht mehr zu versuchen, die verschlossenen Türen zu einem weltlichen Leben zu öffnen.

    Das wäre aber fatal, falls ich das richtig verstehe. Es gibt nur das weltliche Leben, alles andere ist Rückzug in die Fantasie und führt im Extremfall zum Wahnsinn. Oder man verschiebt sein Glück in ein imaginäres nächstes Leben statt es jetzt zu suchen. Nach deinen anfänglichen Ausführungen hatte ich auch nicht den Eindruck, dass deine Einschränkungen so gravierend sind, dass du keinen Zugang zum weltlichen Leben hättest. Auch wenn man auf einzelne Erfahrungen verzichten muss, bleibt immer noch genug vom weltlichen Leben übrig.

    Vielleicht würde man ihn (den Autisten) sogar als eine Art Heiligen sehen, der sich nicht so sehr für die weltlichen Dinge zu interessieren scheint, dafür aber viel im Inneren sucht. Vielleicht würde ihm die gesellschaftliche Rolle eines Schamanen o.ä. zuteil.

    Ich glaube, das ist zu viel Naturvölker-Romantik. Die Realität sieht oft anders aus. Wenn ich mal Kontakt zu Afrikanern oder anderen eher südlich verorteten Völkern habe, dann fühle ich mich da oft doppelt unwohl, weil diese Völker noch viel mehr Offenheit und Extravertiertheit erwarten. Neulich meinte ein Afrikaner, die Deutschen seien immer so verklemmt. Wenn ich mir dann vorstelle, mit meinem verklemmten Aspie-Wesen in so einer Kultur aufzuwachsen, dann sehe ich mich da noch mehr als Außenseiter als hier.
    Wenn der Autismus stärker ist, also evtl. noch verbunden mit Nichtsprechen und /oder geistiger Behinderung, dann sieht es bei sog. Naturvölkern oft ganz düster aus. Solche Menschen führen dort ein verstecktes Außenseiterleben und müssen froh sein, wenn sie nicht verjagt oder totgeschlagen werden.
    In Bezug auf körperliche und geistige Behinderungen kann man hier dazu einiges nachlesen:
    https://www.spiegel.de/spiegel/spiegelspecial/d-8694613.html

    Historisch gesehen waren die schrecklichsten Dinge wie Krieg, Genozid oder Sklaverei nicht das Ergebnis von Ungehorsam, sondern von Gehorsam.
    (Howard Zinn)

  • @Shaluna

    Ich bin ja da kein Experte und beschäftige mich noch nicht lange mit dem Thema, aber


    Ich bin da selbst kein Experte, es ist gut möglich dass Du da besser Bescheid weißt als ich. Den aktuellen Forschungsstand kenne ich jedenfalls nicht, für unumstößlich halte ich die bisherigen Erkenntnisse aber auch nicht. Als ich damals bei der Diagnostik war (das ist keine 10 Jahre her) hieß es auf meine Frage hin noch, dass Autismus definitiv ab Geburt da sein müsse und es nicht wie bei anderen "Krankheiten" (z.B. Depression) nicht nur eine Veranlagung sein könnte, die möglicherweise erst im Laufe des Lebens ausbricht. Erstaunt war ich kürzlich zu lesen, dass diese Annahme heute nicht mehr gilt.

    Beim Autimus bleibt das impairment (= abweichende Reizverarbeitung?) ein Leben lang bestehen (zumindest nach aktuellem Forschungsstand).
    Die daraus resultierende disability verändert sich aber mit den Lebensumständen.


    Die Unterteilung in impairment und disability leuchtet ein und ich finde sie gut, das sind bessere Begriffe als die etwas sperrigen Umschreibungen, wie ich sie bisher verwendet habe. Ich denke, auf Deine Aussage können wir uns alle einigen.

    Die disability beim Autismus ist soweit auflösbar, dass eine Diagnose nicht mehr gerechtfertigt sein kann. Allerdings funktioniert das nicht nur durch das Außen wie beim Rollstuhlfahrer, dem man rollstuhlgerechte Zugänge etc. bieten muss, darin sehe ich einen grundlegenden Unterschied. Ein Autist kann prinzipiell(! vielleicht nicht alle) etwa in einer Therapie angemessene soziale Interaktion erlernen, oder auch auf ganz anderen Wegen ein Leben führen, in welchem er keine Einschränkungen mehr erlebt und sie auch im Außen gar nicht wahrnehmbar sind. Ein Querschnittsgelähmter in seinem Rollstuhl hat diese Möglichkeit nicht, er ist darauf angewiesen, dass sich die Welt um ihn herum auf ihn einstellt, während ein Autist sich auf die Welt um ihn herum einstellen kann.

    Wenn die disability beim Autismus aufgelöst ist, bleibt nur noch die Frage, wie man das impairment betrachtet. Ich persönlich sehe da erst einmal keinen Grund, eine "abweichende Reizverarbeitung" negativ zu bewerten. Eben diese ist es ja, die von Menschen mit „nicht-abweichender Reizverarbeitung“ sogar als bereichernd erlebt werden kann, sodass sogar gezielt nach ihnen gesucht wird. Auch hier sehe ich also einen grundlegenden Unterschied zum Querschnittsgelähmten, vermutlich gibt es da niemanden, der in einer solchen Lähmung einen verborgenen Schatz o.ä. erkennt, daher fühlt sich das Gleichnis vom Autisten und dem Rollstuhlfahrer für mich nicht stimmig an. Außer der Möglichkeit, dass beide auf bürokratischer Ebene als schwerbehindert gelten können, sehe ich da nicht viele Gemeinsamkeiten.

    @Shenya


    Ich wollte keine Grundsatzdiskussion über Religion oder Esoterik auslösen oder eine führen. Vielleicht muss ich das klarstellen, das Beispiel mit der Wiedergeburt im Ausgangsposting war als ein Beispiel für eine Möglichkeit gedacht, wie man sich selbst so betrachten kann, dass man mit sich im Reinen ist, obwohl man in diesem Leben unglücklich ist. Das bedeutet nicht, dass es meine Sicht oder Überzeugung widerspiegelt und es gibt eben auch viele andere Möglichkeiten.

    Von Philosophie halte ich allerdings viel und ich betrachte auch Deine Ausführungen als philosophische Überlegungen

    Nach deinen anfänglichen Ausführungen hatte ich auch nicht den Eindruck, dass deine Einschränkungen so gravierend sind, dass du keinen Zugang zum weltlichen Leben hättest.

    Ich kann nicht von mir behaupten, dass ich Zugänge zu einem weltlichen Leben hätte. Null Kontakte, keine Arbeit, keine Teilhabe am gesellschaftlichen Leben und das seit vielen Jahren. Vielleicht wäre es daher konsequent - so die Überlegung - sich von dem Traum auch zu verabschieden, die Wohnung und das Ich aufzulösen und in ein Kloster zu gehen. Da hätte ich dann witziger oder traurigerweise wohl sogar mehr Kontakte. Wobei ich jetzt natürlich auch nicht so ohne Weiteres weiß, ob das funktionieren würde. Es gibt aber auch keinen Grund, an dem jetzigen "Lebensmodell", welches starke soziale Isolation bedeutet, festzuhalten.

  • Ich kann nicht von mir behaupten, dass ich Zugänge zu einem weltlichen Leben hätte. Null Kontakte, keine Arbeit, keine Teilhabe am gesellschaftlichen Leben und das seit vielen Jahren.

    Wie kommst du dann zu der Einschätzung, nicht behindert zu sein?
    Ich bin bisher davon ausgegangen, dass das nur Aspies tun, die keine großen Einschränkungen haben.
    Wenn dein Leben so ist, dann ist es ja keineswegs durchschnittlich, dann passt es nicht zu sagen "jeder hat sein Päckchen zu tragen". Ich würde sagen, die meisten Leute tragen im Durchschnitt solche Päckchen nicht.
    Ich hoffe, das deprimiert dich jetzt nicht. Aber es kann ja auch eine Entlastung sein, wenn man weiß, dass es einen guten Grund für Misserfolge gibt, und eine Behinderung zu haben, muss nicht bedeuten, dass das Leben nicht trotzdem gut sein oder werden kann, nur eben auf eine andere Weise als beim Durchschnitt.

    Vielleicht wäre es daher konsequent - so die Überlegung - sich von dem Traum auch zu verabschieden, die Wohnung und das Ich aufzulösen und in ein Kloster zu gehen. Da hätte ich dann witziger oder traurigerweise wohl sogar mehr Kontakte.

    Das wäre eine Möglichkeit. Ansonsten, wenn es mit Kontakten bei "normalen" Menschen wirklich überhaupt nicht klappt (es gibt ja Möglichkeiten, welche kennenzulernen, aber das Halten dieser Bekanntschaften ist manchmal schwierig), dann bliebe auch noch die Möglichkeit, sich eher professionelle Kontakte zu suchen. Zum Beispiel beim sozialpsychiatrischen Dienst, in einem ambulant betreuten Wohnen oder sowas. Dort könntest du dann auch Kontakte zu anderen Menschen mit Schwierigkeiten bekommen, falls du das willst. Selbsthilfegruppen für AS gäbe es auch noch. Es kann vielleicht leichter sein, Kontakt zu Leuten mit ähnlichen Problemen zu bekommen, obwohl ich das nach meiner persönlichen Erfahrung nicht bestätigen kann. Ich finde es mit anderen Aspergern nicht einfacher, aber andere schon.
    Ärzte und Therapeuten finde ich auch hilfreich.

    Historisch gesehen waren die schrecklichsten Dinge wie Krieg, Genozid oder Sklaverei nicht das Ergebnis von Ungehorsam, sondern von Gehorsam.
    (Howard Zinn)

  • Wie kommst du dann zu der Einschätzung, nicht behindert zu sein?

    Es ist ein bisschen schwer darauf zu antworten, weil das meiste davon sich für mich auf philosophischer Ebene abspielt, mit der Du ja gar nichts zu tun haben möchtest (was vollkommen okay ist).

    Lass‘ mich festhalten, dass ich z.Zt. kein festes Selbstbild, also keine abschließende Antwort auf die Frage, ob ich behindert bin, habe. Daher haben mich eure Selbstbilder interessiert.

    Dass ich leide, ist unbestritten. Bzw. hängt das stark davon ab, was ich als „ich“ verstehe.

    Ich versuche, es nur beispielhaft und einfach auszudrücken: wenn dieses Leid bedeutet, dass ich so viel Zeit mit mir alleine verbringen sollte dass ich erkenne, dass es gar kein Ich gibt, bedeutete es, dass ich nicht länger an einer Illusion festhalte. Dann wäre dieses Leid kein Leid mehr, sondern eine wohl wichtige Voraussetzung zur „Selbst“erkenntnis gewesen, die ich ohne dieses Leid wahrscheinlich gar nicht erlangt hätte. Eine Behinderung könnte ich das dann nicht mehr nennen.

    Das aber wie gesagt nur als ein Beispiel-Szenario. Ich weiß noch nicht, wie es für mich ausgeht. Natürlich gibt es auch weniger schöne Szenarien, in denen man dann von Behinderung reden müsste.

  • @Dr. L84…Verstehe ich Dich richtig, daß Du die Hoffnung hast, anhand des richtigen Weltbildes Deine Lebenserfahrungen bzw. deine Lebenssituation in einen größeren Zusammenhang zu bringen, in welchem das alles dann einen Sinn ergibt, mit dem Du Frieden findest ?

    Falls ja, möchte ich Dir erzählen: ich bin aufgrund meiner sinnsuchenden Eltern mit der festen Überzeugung aufgewachsen, daß es keinen Zufall gibt, daß alles einen Sinn hat, der mir als Mensch mit meinen beschränkten Möglichkeiten in der Dualität des Seins nur oft verborgen bleibt. Mit 24 habe ich mein erstes Kind bekommen, das durch die Geburt schwerstbehindert war (infantile Zerebralparese nach peripartaler Asphyxie, sprich es hat nicht von selbst geatmet, die Sauerstoffflasche war leer und es sind nicht alle nötigen Maßnahmen ergriffen worden..ein Arztfehler). Die Familie, mein damaliger Ehemann, alle waren geschockt und in ihren Grundfesten erschüttert, sie konnten über Wochen und Jahre nicht mehr arbeiten, nicht mehr kreativ sein, nicht mehr Klavier spielen, etc.; ich war natürlich anfangs auch vollkommen unter Schock stehend, habe aber dieses Ereignis nicht so hinterfragt wie die anderen, sondern habe mich sofort in die Arbeit gestürzt (Welche Hilfen ? Welche Therapien ? etc.) und habe die Pflege dieses Kindes als meine Aufgabe angenommen, ohne zu klagen oder zu zweifeln. Es hat für mich einen Sinn ergeben, das beste für diesen Menschen, für uns zusammen aus dem Leben herauszuholen, was geht. Ich habe dafür alles verloren, mein Studium, unsere Freunde (sie konnten nicht mit der Situation umgehen), und habe mich auch von meinem Mann getrennt, weil er auch nach Jahren noch darüber jammerte und klagte, wie schlimm es uns doch getroffen hätte, und wie schön alles hätte sein können, etc., ich konnte es einfach nicht mehr hören.

    Nach 12 Jahren lag meine Tochter morgens tot im Bett. DA ist bei mir alles zusammengebrochen. Das konnte ich mit meinem Glauben, mit meiner Einstellung der Sinnhaftigkeit des Lebens gegenüber überhaupt nicht vereinbaren.

    Seltsam, oder ?

    Ich habe 10 Jahre mit vielen Krisen gebraucht, um zu einem ähnlich tiefen Glauben zurückzufinden, der sich allerdings weit weniger kindlich und egoistisch ausgestaltet (theistischer Panteismus trifft es am besten). Eine befreundete Pastorin hatte damals gesagt:"Das ist jetzt Deine persönliche Kreuzigung. Was machst Du jetzt daraus ?"

    Einmal editiert, zuletzt von Gerit (23. Februar 2021 um 21:46)

  • Wow, was für eine tolle Frage, und so viele inspirierende Antworten. Danke dafür!
    Im Grunde genommen ist auch schon alles gesagt, was ich hätte sagen können. Lediglich eine philosophische Ergänzung könnte ich aus meinem Verständnis heraus noch machen:
    Es gibt überhaupt nichts, was stabil, permanent wäre. Das Ich, das JETZT schreibt, ist HIER schon wieder vergangen. Alle Definitionen des Selbst sind letztlich eine Illusion, wenn auch eine sehr hilfreiche. Denn ich wäre nicht selbstständig lebensfähig, wenn ich kein Ich und Du, kein kalt oder heiß, keine Nahrung oder Gift unterscheiden könnte. Und wenn ich das Konzept vom Ich mit all seinen „Ich bin 56, Frau, Freundin, Buddhistin, Asperger (oder auch nicht?)....“ als hilfreiches Werkzeug betrachte, dann kann ich mit diesem Werkzeug arbeiten, identifiziere mich aber nicht damit. Stellt sich dann natürlich noch die Frage, was ist dann das Selbst, das das Werkzeug gewissermaßen bedient? Sorry, habe keine Antwort hier, darf jeder für sich selbst rausfinden

  • Danke für die Erinnerung an den Thread.

    Verstehe ich Dich richtig, daß Du die Hoffnung hast, anhand des richtigen Weltbildes Deine Lebenserfahrungen bzw. deine Lebenssituation in einen größeren Zusammenhang zu bringen, in welchem das alles dann einen Sinn ergibt, mit dem Du Frieden findest ?


    Vielleicht. Ich habe die Frage mehrmals gelesen und dabei unterschiedlich gedeutet.

    Es geht (ging) mir nicht darum, eine bequemere Weltsicht zu finden. Wenn mir Behinderung als Wahrheit erscheinen würde, wollte ich nicht eine andere suchen, die mir mehr schmeichelt.

    Als Wahrheit erschien oder erscheint mir aber erst einmal nur, dass eine solche Betrachtung als Behinderung gefährlich sein kann (nicht muss, je nach Lebenssituation): möglich sind bspw. Insuffizienzerleben für das es keinen Ausweg zu geben scheint, Illusion einer Beständigkeit, die einen an der Weiterentwicklung hindert weil man sie für nicht möglich hält und man sich somit selbst behindert, ein Identifjkationsmerkmal, mit dem man sich von anderen Menschen abgrenzt und so verschiedene Schubladen für sie aufmacht ("ich bin Autist und NTs können mich nicht verstehen") u.v.m.. Allerdings scheint es eben auch starke Unterschiede darin zu geben, was jemand mit "Behinderung" verbindet. Manche wollen sich vielleicht gerne als behindert sehen und auch so gelten, in einem Sinne von dass sie hoffen, dadurch gesellschaftliche Anerkennung für bis dahin erfahrenes Leid zu bekommen und zukünftig verschont zu werden oder zumindest Rücksicht zu erfahren. Die Intentionen scheinen da also ganz unterschiedlich und am Ende ist diese wohl auch entscheidender als die gewählte Sicht auf die Dinge. Daher griff die Frage im Eingangsposting vielleicht etwas zu kurz, obwohl ich ja auch nach dem "warum" fragte.

    Da sich die praktische Relevanz für meine Diagnose bzgl. Therapiemöglichkeiten u.ä. stark in Grenzen hält, es dahingehend wohl mehr Möglichkeiten gäbe, wenn ich sie nicht annehmen würde (möchte ich an dieser Stelle nicht diskutieren, tat ich schon woanders), stellt sich eben die Frage, inwieweit sie mir vielleicht mehr schadet als nützt, wenn ich mich selbst als Autist betrachte.

    Der Ausweg scheint mir bis auf Weiteres erst einmal dieses hier zu sein:

    wenn ich das Konzept vom Ich mit all seinen „Ich bin 56, Frau, Freundin, Buddhistin, Asperger (oder auch nicht?)....“ als hilfreiches Werkzeug betrachte, dann kann ich mit diesem Werkzeug arbeiten, identifiziere mich aber nicht damit. Stellt sich dann natürlich noch die Frage, was ist dann das Selbst, das das Werkzeug gewissermaßen bedient?

    Die Frage, ob ich Autist bin oder nicht, stellt sich damit nämlich nur im Spannungsfeld von Psychiatrie, Behörden, Arbeit, usw. und ist somit höchstens ein Mosaikstein meines weltlichen Ichs, welches wiederum nicht von größerer Bedeutung ist. Zudem spiegelt er je nach Zeitpunkt/Lichteinfall andere Dinge.

    Nach 12 Jahren lag meine Tochter morgens tot im Bett. DA ist bei mir alles zusammengebrochen. Das konnte ich mit meinem Glauben, mit meiner Einstellung der Sinnhaftigkeit des Lebens gegenüber überhaupt nicht vereinbaren.

    Seltsam, oder ?

    Ich bin mir nicht sicher, ob wir das Gleiche aus der Erzählung ziehen.

    Ein kleines, unschuldiges Wesen hat in seiner Schutzbedürftigkeit erfahren, wie sich jemand aufopferungsvoll um ihn kümmert. Das ist eine Erfahrung, die nicht alle Menschen machen. Was wäre die Alternative gewesen? Bei der anderen Möglichkeit, die Du ansprichst und die offenbar der Vater gewählt hat, hätte es sich wohl als Belastung und abgestoßen erlebt. Da wäre dem Kind nicht mit geholfen gewesen und es hätte auch nicht erfahren, was Dich und Deine Überzeugungen im Kern ausmachen. Dir wäre damit auch nicht geholfen gewesen, spätestens dann nicht, wenn Du Dich nach dem Tod gefragt hättest, ob es länger gelebt hätte, wenn Du das Kind angenommen hättest - wenn man sich nach der Geburt fragt, warum das alles so gekommen ist, tut man es mit Sicherheit auch nach dem Tod. Möglicherweise wärest Du also mit dem Gedanken, nicht genug getan zu haben, für den Rest des Lebens gestraft gewesen. Ein solches Leid ist Dir durch Dein Handeln erspart geblieben.

    Insofern verstehe ich nicht ganz, wie die Pastorin zum Bild einer persönlichen Kreuzigung nach dem plötzlichen Tod kommt. Wenn man ein solches Bild bemühen wollte, hätte es aus meiner Sicht auf die Zeit davor zugetroffen, in der Du alle Last für andere auf Dich genommen hast. Nicht aber in dem Moment, in dem Du von dieser Aufgabe entbunden wurdest.

    Wie siehst Du das oder wie hast Du es gesehen?

  • @DrL84:

    Was sie meinte, ist folgendes: bekanntermaßen hat Jesus am Kreuz gezweifelt, ob das alles so schlau war, was er da getan hat, und ob er sich nicht doch irgendwie geirrt hat und geisteskrank ist oder so, "Mein Gott, warum hast Du mich verlassen ?". Das war der Augenblick, in dem er sich entscheiden mußte, an was er glaubt und für was er einsteht, unabhängig davon, ob er dafür einen Beweis hat oder nicht, ob es sich lohnt oder nicht... bedingungslos.

    Im Englischen gibt es ein bekanntes Zitat aus der Bibel, das ein General im Zweiten Weltkrieg verwendet hat: ."...but if not" als Morsezeichen, das passt gut zu dem Thema, das habe ich mal nachgelesen.

    Also, die Geburt und Pflege meiner Tochter habe ich ohne Frage und ohne zu zweifeln angenommen, aus irgendwelchen Gründen hat das mein damaliges Weltbild nicht in Frage gestellt, sondern war damit vereinbar.

    Mein Weltbild war aber überhaupt nicht damit vereinbar, daß meine Tochter plötzlich stirbt, mit den nahezu unerträglichen Schmerzen und der Katastrophe, die das für mein Leben dargestellt hat. Alles lag in Scherben, und ich konnte an die Existenz einer göttlichen "Präsenz", mir fällt da jetzt kein besserer Begriff ein, einfach nicht mehr glauben, bzw. ich war der Überzeugung, daß es eine solche göttliche "Macht" nicht geben könne.

    Deswegen war das "meine persönliche Kreuzigung", der "Moment" (von ca. 10 Jahren..ein sehr langer Moment.), wo für mich alles in Frage stand, was ich glaubte zu wissen, bis zu dem Zeitpunkt, als für mich in der Hinsicht (wieder) eine Klarheit vorlag, was für mich der Sinn des Lebens darstellt, woran ich glaube. Würde jetzt wieder eines meiner Kinder sterben, würde das an meinem Glauben nichts ändern. (Schrecklich wäre es natürlich trotzdem)

    Und was ich damit eigentlich (von hinten durch die Brust ins Auge) fragen wollte: Könnte diese Frage, wie Du mit Deinem oben aufgeworfenen Thema umgehst, vielleicht Deine große Herausforderung sein, deren Bewältigung Dich einen essentiellen Schritt weiterbringt ?

  • Was sie meinte, ist folgendes: bekanntermaßen hat Jesus am Kreuz gezweifelt, ob das alles so schlau war, was er da getan hat, und ob er sich nicht doch irgendwie geirrt hat und geisteskrank ist oder so,

    Ok, das kannte ich nicht.

    Das Beispiel ist aber interessant, wenngleich Du es vielleicht anders meinst: hätte Jesus die Welt auf viele Jahre prägen können, wenn er sich in seinem Selbstbild als behandlungsbedürftiger Geisteskranker betrachtet hätte (was er nach heutigem Maßstab ja eindeutig war)? Das zeigt, wie entscheidend das Selbstbild ist.

    Und was ich damit eigentlich (von hinten durch die Brust ins Auge) fragen wollte: Könnte diese Frage, wie Du mit Deinem oben aufgeworfenen Thema umgehst, vielleicht Deine große Herausforderung sein, deren Bewältigung Dich einen essentiellen Schritt weiterbringt ?

    Vielleicht ist das immer noch zu subtil für mich :)

    Ich denke schon, dass mich das ein Stück weit weiterbringen würde, ja. Aber ich bin darin nicht wirklich weitergekommen und auch nicht sicher, ob es da überhaupt eine Antwort gibt. Ich versuchte einen Umweg über die Frage, ob es überhaupt Nicht-Autisten gibt, aber auch darauf habe ich keine Antwort gefunden. Es scheint nur diagnostizierte und nicht-diagnostizierte Autisten zu geben.

    Die eigentliche Antwort auf all das wäre wohl gewesen, dass mir die Diagnose Hilfen ermöglicht, aber das ist nie eingetreten. Von daher brauche ich wahrscheinlich kein Autist zu sein.

  • Das Beispiel ist aber interessant, wenngleich Du es vielleicht anders meinst: hätte Jesus die Welt auf viele Jahre prägen können, wenn er sich in seinem Selbstbild als behandlungsbedürftiger Geisteskranker betrachtet hätte (was er nach heutigem Maßstab ja eindeutig war)? Das zeigt, wie entscheidend das Selbstbild ist.

    Guter Punkt. Ich hoffe, Du verzeihst mir, wenn ich ständig Gedankensprünge mache, mir fällt nämlich eine interessante andere Geschichte dazu ein, nämlich die Rolle des Judas.

    Er hat ja die Rolle des Verräters inne, und ich habe mal eine fiktive Geschichte gelesen, die von dem Gespräch handelt, was Jesus und Judas vor diesem Verrat haben... in welchem Jesus Judas als seinen besten Freund bittet, ihn an die Römer zu verraten, damit die ganze Geschichte sich so erfüllen kann, wie sie laufen muß. Judas sträubt sich und sieht aber im Laufe des Gespräches ein, daß er seine Rolle, die nicht weniger wichtig ist als die Rolle des Jesus, einnehmen muß, wenn er an all das glaubt, wofür Jesus steht. Sein "Verrat" ist somit ein Freundschaftsdienst, ein Dienst an seinem Glauben.

    Was hat das für sein Selbstbild bedeutet zu wissen, daß er für alle Zeiten als Verräter seines besten Freundes dastehen würde ?
    Sich bewußt dafür zu entscheiden, für alle Zeiten die Position des "Arschlochs" einzunehmen, das ist doch groß, oder ?


    Von daher brauche ich wahrscheinlich kein Autist zu sein.

    :m(: :d

    Einmal editiert, zuletzt von Gerit (4. März 2021 um 09:23)

  • Ich hoffe, Du verzeihst mir, wenn ich ständig Gedankensprünge mache,

    Kein Problem.

    Jesus Judas als seinen besten Freund bittet, ihn an die Römer zu verraten, damit die ganze Geschichte sich so erfüllen kann, wie sie laufen muß. Judas sträubt sich und sieht aber im Laufe des Gespräches ein, daß er seine Rolle, die nicht weniger wichtig ist als die Rolle des Jesus, einnehmen muß, wenn er an all das glaubt, wofür Jesus steht. Sein "Verrat" ist somit ein Freundschaftsdienst, ein Dienst an seinem Glauben.

    Ich habe ein paar Probleme mit der Geschichte. Zuerst: ist da nicht ein Widerspruch?

    Jesus steht ja nicht dafür, mit manipulativen Methoden eine politische (oder vielleicht auch nur narzisstische) Agenda zu verfolgen. Wenn Jesus so etwas von Judas verlangt hat, hat nicht einmal Jesus an sich selbst geglaubt, sondern alles nur inszenieren wollen. Das Bild von sich, welches er nach außen darstellen wollte, hätte dann nichts mit seinem eigenen Bild von sich zu tun gehabt.

    Wenn also Judas an das glaubt, wofür Jesus steht, kann er da nicht mitmachen. Er kann sich höchstens mit ihm verbünden um mit ausgeklügelter Propaganda eine Illusion zu schaffen, die die Leute "hinter das Licht führen" soll um ein politisches Ziel zu erreichen. Aber dann kann er nicht mehr an das glauben, wofür Jesus steht. Unter diesen Umständen hätte den beiden auch klar sein müssen, dass der Plan möglicherweise gar nicht aufgeht und dabei Hass gegen Juden entsteht.

    Gut, jetzt kann man natürlich argumentieren, dass auch das bloß Kalkül war und Judas nur vorgetäuscht hat, Jude zu sein, weil die beiden Juden hassten und einen Krieg gegen sie anstacheln wollten. Aber dann entfernt man sich immer weiter von dem, wofür Jesus steht.

    Ich verstehe schon, dass die Erzählung etwas anderes sagen will. Aber die Aussage des ehrenhaften Verhaltens ist nicht losgelöst von der Frage, ob und wenn ja bis zu welchem Grade ein Märtyrertod als notwendig erachtet werden muss um die Leute zu bekehren und ob dieser Zweck solche Mittel heiligt. Die Erzählung besagt letztlich, dass es ehrenwert ist, Menschen nicht nur zu täuschen, zu belügen etc. und sogar das eigene Leben zu opfern solange man glaubt, damit Gott zu dienen und das halte ich für sehr gefährlich. Es legitimiert, eine eigene Ethik zu haben, die im Zusammenleben mit anderen Menschen nicht funktioniert.

  • Die eigentliche Geschichte in der Bibel lautet ja so, daß Jesus Judas prophezeit, daß er ihn verraten wird, bevor der Hahn dreimal geschrien hat oder so ähnlich, ich bin jetzt zu faul nachzugucken. Wenn wir also von dem Bild ausgehen, daß Jesus eine Art "Hellsicht" besitzt, und schon weiß, wie es laufen wird, ist das ja nicht mit Selbstinszenierung zu vergleichen, sondern er fügt sich in seine Rolle, die sein Schicksal als Sohn Gottes, der durch seinen Tod die ganze Welt retten wird (stell Dir mal vor, Du postulierst das heutzutage..), vorsieht. Bis auf eben den Moment am Kreuz, in welchem er zweifelt.

    Daß Jesus Judas darum bittet, sich in sein Schicksal zu fügen, das ja ziemlich absurd ist (seinen liebsten Freund und Mentor für ein paar Münzen an die verhassten Feinde auszuliefern), steht ja in der Bibel so nicht, das ist ja nur eine gedankliche Weiterführung in einer Geschichte. Sie fußt aber darauf, daß Jesus diese "hellsichtigen" Fähigkeiten hat und es für ihn nicht eine Frage der Propaganda ist. So stelle ich mir das jedenfalls vor.


    Ich verstehe schon, dass die Erzählung etwas anderes sagen will. Aber die Aussage des ehrenhaften Verhaltens ist nicht losgelöst von der Frage, ob und wenn ja bis zu welchem Grade ein Märtyrertod als notwendig erachtet werden muss um die Leute zu bekehren und ob dieser Zweck solche Mittel heiligt. Die Erzählung besagt letztlich, dass es ehrenwert ist, Menschen nicht nur zu täuschen, zu belügen etc. und sogar das eigene Leben zu opfern solange man glaubt, damit Gott zu dienen und das halte ich für sehr gefährlich. Es legitimiert, eine eigene Ethik zu haben, die im Zusammenleben mit anderen Menschen nicht funktioniert.

    Du hast völlig recht. Siehe "Der Zweck heiligt die Mittel", "Die Revolution frisst ihre Kinder", etc. dieses Problem hatten die Menschen ja schon mal des öfteren, und ich finde das total spannend, denn letztlich entsteht daraus dann etwas Neues, das es vorher nicht gegeben hat, sei es neue politische Systeme, oder, wie in Jesus Fall, Millionen Christen und ein riesiger Einfluß einer Religion auf die ganze Welt, etwas, was vorher noch nicht da war.

    Nimm im (vielleicht) positiven Sinne alle großen Erfinder der Weltgeschichte. Ist es da nicht auch so, daß sie ein Selbstbild hatten, daß es zuließ, daß sie etwas völlig Neues erkennen konnten/erfanden ?

    ZB. Newton, der unter seinem Baum sitzt und ERST 1665 durch den vom Baum fallenden Apfel die Schwerkraft bewußt erkennt...so viele Menschen haben dieses Naturgesetz vor ihm schon erfahren, aber offiziell zumindest hat es keiner als ein solches wahrgenommen.
    Was macht den Unterschied ?

    Oder, auch total faszinierend in Sachen Selbstbild, Donald Trump. Ich habe nur die Dokus über ihn gesehen, aber soweit ich weiß, hätte sein Selbstbild realistischerweise heißen sollen: gescheiterter aufgeblasener Superblödmann (oder so ähnlich). Nein, sein Selbstbild lautete "geilster Typ auf Gottes Erdboden", und - Präsident der USA. Zack. Ich glaube, das hat ihn selber überrascht.

  • Die eigentliche Geschichte in der Bibel lautet ja so, daß Jesus Judas prophezeit, daß er ihn verraten wird, bevor der Hahn dreimal geschrien hat oder so ähnlich

    Das wusste ich auch nicht.


    Daß Jesus Judas darum bittet, sich in sein Schicksal zu fügen, das ja ziemlich absurd ist (seinen liebsten Freund und Mentor für ein paar Münzen an die verhassten Feinde auszuliefern), steht ja in der Bibel so nicht, das ist ja nur eine gedankliche Weiterführung in einer Geschichte. Sie fußt aber darauf, daß Jesus diese "hellsichtigen" Fähigkeiten hat und es für ihn nicht eine Frage der Propaganda ist. So stelle ich mir das jedenfalls vor.

    Dass das eine fiktive Geschichte ist bzw. nicht in der Bibel steht, hatte ich verstanden. Der Aspekt mit der Hellsichtigkeit fehlte mir aber, es klang für mich eher so, als würde Judas ihn gar nicht verraten wollen und dass Jesus ihn erst davon überzeugen musste, das zu tun. Wenn das so wäre handelte es sich nicht mehr um einen göttlichen Plan. Bei solch einem wäre es egal gewesen, was Jesus sagt - Judas hätte ihn so oder so verraten. Da hätte Judas sich nicht sträuben müssen und Jesus auch einfach sagen können "lieber Judas, ich weiß was geschehen wird und ich vergebe Dir schon jetzt dafür". Aber nagut, gehen wir davon aus, dass es irgendwie Sinn macht.

    Mit Newton kenne ich mich auch nicht aus. Habe in der Wikipedia quergelesen und da hieß es, dass er eingeräumt hat, dass Hooke ihn auf die richtige Fährte führte.

    Hookes Vorschlag abnehmender Schwerkraft beruhte allerdings auf Intuition und nicht – wie bei Newton – auf Beobachtung und logischer Ableitung.

    Isaac Newton verweigerte Hooke jegliche Anerkennung für die Ideen, die ihn zur mathematischen Formulierung seines Gravitationsgesetzes führten.


    Ich weiß über beide jetzt nicht wirklich, wie sie sich gesehen haben. Hooke hatte wohl eine unbeschwerte Kindheit und darin wahnsinnig viel erkundet, gebastelt usw. Royalistische Familie, von den Auswirkungen des Bürgerkriegs blieb er daher verschont.

    Ich denke, dass es oft nur solche Dinge sind, die zu weltbewegenden Erkenntnissen führen. Dass es nicht daran liegt, dass jemand so wahnsinnig toll wäre sondern nur daran, dass er im Gegensatz zu anderen das Glück hatte, sich frei entfalten zu können. Und im Falle von Newton vielleicht auch das Glück, auf Ideen anderer zurückgreifen zu können, ohne die er es gar nicht geschafft hätte. Da er die Anerkennung für Hooke verweigerte, sah er sich selbst aber wohl nicht so.

    Trump ist natürlich spannend. Hatte auch ein paar Dokus gesehen.

    Aber was ziehen wir daraus?

    Besonders mit Blick auf Trump hatte ich eigentlich beschlossen, narzisstische Persönlichkeitsanteile zu entwickeln. Dass Dreistigkeit siegt, war auch vorher schon klar. Ich hatte einmal der Tagesschau in völlig arrogantem Ton unverantwortliches Handeln vorgeworfen und meine Hilfe angeboten, damit ihnen nicht wieder solche Fehler unterlaufen. Ein Jobangebot habe ich zwar nicht bekommen, aber wahrscheinlich geht's nur so indem man möglichst breitbeinig auftritt. Oder über Kontakte.

    Daher macht es vielleicht auch schon Sinn, wenn manche, die sich als Autisten sehen bzw. sich darüber identifizieren, Autismus als nächste Stufe der Evolution verstehen.

    Wie siehst Du Dich eigentlich in Bezug auf Autismus?

  • Trump ist natürlich spannend. Hatte auch ein paar Dokus gesehen.

    Aber was ziehen wir daraus?

    Ich weiß nicht. Meine einzige Erklärung für so ein Phänomen ist, daß die Menschen manchmal aus irgendwelchen Gründen aufhören logisch zu denken und anfangen, einfach an etwas glauben (wodurch sie mittels logischer Argumente nicht mehr zugänglich sind), und dann ist alles möglich.

    Ein anderes solches (zugegeben sehr heikles) Thema, das mich schon immer interessiert hat, ist Adolf Schicklgruber, der erfolglose Kunstmaler aus Wien, großer Liebhaber von superkitschigen Opern, ruhmloser einfacher Soldat im ersten Weltkrieg, "ein von seinen eigenen Genen gedemütigter, schwanzloser Vegetarier", wie ihn ein Kabarretist einmal genannt hat. Wie war es möglich, daß daraus der anscheinend waahnsinnig charismatische Adolf Hitler, Führer der Massen, werden konnte ? Und wie war es weiter möglich, daß er und seine kriminelle Bande, körperlich gesehen lauter Witzfiguren, ernsthaft die Vorherrschaft einer "arischen Rasse" propagieren konnten ? Hatten die damals keine Spiegel ??

    Was den Autismus angeht: ich weiß erst seit wenigen Jahren davon, vorher hatte ich alle möglichen anderen Ursachen für meine Beschränkungen herangezogen, Elternhaus, Gesellschaft, meine Persönlichkeit etc.

    Für mich war die Diagnose erstmal eine große Erleichterung, hauptsächlich weil ich nicht mehr die einzige war, die sich so seltsam verhält, sondern es gibt sogar ganz schön viele davon. Ich hatte mein Leben lang mit großer Einsamkeit zu kämpfen, selbst unter lieben Leuten. :|

    Für meine Mutter war es auch eine Erleichterung, sie hatte sich als Mutter immer ein wenig als Versagerin gefühlt. :d

    Jetzt fühle ich manchmal eine gewisse Verzweiflung, weil ich bis vor der Diagnose gehofft habe, daß ich durch Dazulernen irgendwann doch noch eine gewisse Beziehungsfähigkeit entwickeln könnte, diese Illusion ist mir aber durch das Forum hier und Bücher zu dem Thema endgültig abhanden gekommen. In der Hinsicht habe ich wohl schon das für mich mögliche Optimum aus meinem Leben herausgequetscht, mehr wird es wohl nicht mehr. Oft lese ich hier im Forum, daß andere die Hoffnung haben, dass sie mit einem Partner aus dem autistischen Spektrum besser zurechtkommen könnten, diese Hoffnung teile ich nicht, ich finde andere Autisten oft äußerst nervig (wie andere mich nervig finden), gerade aufgrund der typisch autistischen Eigenschaften. Naja, eine Enttäuschung ist ja immer das Ende einer Täuschung, insofern kann ich eventuell meine Zeit in Zukunft auf das verwenden, was ich kann, und nicht auf das, was ich bis jetzt nicht hingekriegt habe und auch in Zukunft wohl nicht hinkriegen werde... :| (..aber irgendwo in mir schlummert nach wie vor die Idee eines Seelenverwandten... :nerved: :nerved: )

    Du hast irgendwo geschrieben, daß Du früher Arbeit hattest und in der Gesellschaft eingebunden warst, beides aber jetzt nicht mehr hast. Wie ist es dazu gekommen ? Hattest Du auch einen Zusammenbruch ? Oder war es eine schleichende Entwicklung ? Lebst Du alleine ?

  • P.S.: Meinst Du eigentlich, daß sich alles in gleicher ernsthafter Weise entwickelt hätte, wenn die Menschen "Heil Schicklgruber !" als Gruß hätten rufen müssen ?

  • Ich weiß nicht. Meine einzige Erklärung für so ein Phänomen ist, daß die Menschen manchmal aus irgendwelchen Gründen aufhören logisch zu denken und anfangen, einfach an etwas glauben (wodurch sie mittels logischer Argumente nicht mehr zugänglich sind), und dann ist alles möglich.

    Interessante These. Ich bin bzw. war mir bei Trump oft nicht sicher, ob er wirklich so irrational ist, wie er gerne dargestellt wurde. Er hat sich ja auch selber gerne so dargestellt, als unberechenbar, und das ist ebenso wie beim Pokern wohl nicht die schlechteste Taktik. Bei Merkel als Gegenbeispiel fand ich es oft ein Problem, dass ganz genau klar war, was sie wollte und man ihr daher auch den höchsten Preis abverlangen konnte, z.B. in den Verhandlungen mit der Türkei während der sog. Flüchtlingskrise. Wenn man sinngemäß Dinge sagt wie "wir müssen um jeden Preis dafür sorgen, dass ..." hat man eine ziemlich schlechte Position, wenn man in Verhandlungen geht. Auf diesem Gebiet war Trump m.M.n. sehr viel kompetenter.

    Ich hatte irgendwo schonmal was zu Trump als Politiker geschrieben.

    Dass wir uns nicht falsch verstehen, ich halte Trump für keinen guten Politiker und ich distanziere mich von ihm soweit wie auch nur irgendwie möglich. Ich weiß aber nicht, ob er dieses Bild der Unberechenbarkeit nicht auch selbst bewusst so zeichnen will und zeichnen lässt, um in einer besseren Verhandlungsposition zu sein. Das kann er auch auf Basis von Ratio so entschieden haben, weil es für ihn vielleicht eine immer bewährte Strategie in seinem Leben als Geschäftsmann war. Vielleicht hatte er nach Amtsantritt als Präsident ja sogar einen emotionalen Moment in der Art von "hmm, diese ganze Sache hier ist echt ernst, vielleicht sollte ich an meinem Auftreten etwas ändern" und es verworfen, weil er der Ratio mehr Gewicht eingeräumt hat die ihm dazu riet, auf bewährte Verhandlungstaktiken zu setzen. Ich kann das nicht wissen.

    Ich weiß nicht, vielleicht denkt er innerhalb seiner Erfahrungswelt sogar sehr logisch.

    Oft lese ich hier im Forum, daß andere die Hoffnung haben, dass sie mit einem Partner aus dem autistischen Spektrum besser zurechtkommen könnten, diese Hoffnung teile ich nicht, ich finde andere Autisten oft äußerst nervig

    Ich denke auch, dass "Autismus" keine unbedingt gute gemeinsame Basis ist. Bei einem NT und einem Autisten gibt es ja schon noch irgendwie einen gemeinsamen Orientierungspunkt (der, den der Autist für gewöhnlich nicht erreicht) im Hinblick auf soziale Konventionen etc. Zwar sind beide ein Stück weit voneinander entfernt, aber wenn man sich hingegen zwei Autisten anschaut sind die beiden u.U. noch viel, viel weiter voneinander entfernt. Das kann dann schon ziemlich "abgespaced" sein.

    Hattest Du zufällig "Liebe im Spektrum" bei Netflix gesehen? Es gab dort soetwas wie ein echtes Traumpaar, allerdings hatten die sich eben nicht beim "Dating für Behinderte" kennengelernt, sondern in der "freien Wildbahn". Der Mann wusste damals noch nicht, dass er Autist war, sie als bereits Diagnostizierte war sich aber sicher, dass er es ist. Das war schön, die beiden zu sehen. Die Versuche derjenigen aber, die ihr Glück beim "Dating für Behinderte" suchten, fand ich ziemlich deprimierend. Wiederum schön fand ich zu sehen, wie stark Autisten von Therapieangeboten, also in diesem Fall Datingübungen profitieren konnten. Auch wenn sich hier viele im Forum noch so sehr dagegen wehren bin ich der Meinung, dass die Diagnose für genau soetwas da sein soll.

    Leider sind Hilfen für zumindest mich extrem schwer zu bekommen. Bei meinem letzten Versuch hatte ich Anfang September einen Antrag auf Kostenübernahme einer Autismus-Therapie bei den Behörden gestellt, ich hatte dafür ziemlich lange mit meiner Ärztin Formulare ausgefüllt und sogar den kompletten Bericht der Diagnostik mitgeschickt. Nun hatte ich im März die Antwort erhalten, dass ich "fehlende Unterlagen" einreichen soll. Was die alles wissen wollen kann ich nicht mal eben so nachschlagen, dafür hätte ich seit vielen Jahren ein perfektes Organisationssystem für all meine Papiere haben müssen. Ich empfinde das als Schikane. Wenn ich das alles irgendwann einreichen können und der Antrag tatsächlich bewilligt werden sollte, bedeutet das auch bloß, dass ich dann auf die Warteliste für die Therapie gesetzt werden kann. Da frage ich mich schon, wie sinnvoll es ist, immer mehr Diagnosen zu verteilen die allzu oft nur bedeuten, dass die Leute keine Perspektive mehr haben oder keine mehr darauf sehen, integriert zu werden. Am Anfang fand ich die Diagnose auch erleichternd, gleichzeitig ist das Therapieangebot damit aber auch auf praktisch Null gesunken.

    Du hast irgendwo geschrieben, daß Du früher Arbeit hattest und in der Gesellschaft eingebunden warst, beides aber jetzt nicht mehr hast.


    Wirklich eingebunden war ich nicht. Ich habe erst sehr spät mit Arbeit angefangen und hatte dann auch fast ausschließlich Home-Office gemacht. Aber ich hatte Freunde/Kontakte, die ich regelmäßig sah und durch die sich die Arbeit auch erst ergeben hat. Es war ein bisschen beides, eine schleichende Entwicklung und Zusammenbruch. Ich war immer davon ausgegangen, dass der Vertrag zu einem bestimmten Zeitpunkt endet und es dann vorbei sein würde, dementsprechend habe ich mit meiner Energie auch gehaushaltet. Ich habe erst später verstanden, dass es dabei nur darum ging, mir nicht zu große Hoffnungen zu machen, die Firma mich aber auf jeden Fall weiter haben wollte. In der Zeit, in der sich der Vertrag dem Ende näherte, konnte ich aus vielen verschiedenen Gründen nicht wirklich mehr. Mir wurde eine Festanstellung in Aussicht gestellt, verbunden mit dem Wunsch, öfters in den Firmen-Räumlichkeiten präsent zu sein und ich habe mich krankschreiben lassen und gekündigt. Das kann man vielleicht einen Zusammenbruch nennen. Die privaten Kontakte, die teils mit der Firma verwoben waren, konnte ich nicht mehr pflegen bzw. habe ich mich auch erstmal isolieren müssen und dadurch fielen sie auch langfristig weg.

    Danach war jahrelang ziemlicher Stillstand im Leben, keine neue Arbeit (habe mich auch nicht in der Lage dazu gesehen, überhaupt ein Vorstellungsgespräch zu meistern, da ich kein Trump bin der den Leuten vermittelt, dass ich derjenige bin, den sie suchen und es bereuen würden, wenn sie einen anderen nähmen), keine neuen Kontakte etc.

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