Unfähigkeit zu informeller Interaktion?

  • Hier gibt es ja etliche Leute, die zu Ergebnissen der Hirnforschung etwas belesen sind. Gibt es / kennt ihr ein spezifisches Phänomen der Unfähigkeit, mit anderen Menschen informell zu interagieren? Mich würde interessieren, ob jemand darüber schon mal etwas gehört oder gelesen hat. Unabhängig davon, ob ein Zusammenhang mit Autismus besteht oder nicht.

    Mir gegenüber hat das jemand einmal mit diesen Worten erwähnt, als ich versucht habe, den Kern meiner zwischenmenschlichen Schwierigkeiten zu beschreiben. Es fühlte sich an wie ein Treffer ins Schwarze, so gut getroffen hatte ich mich bis dahin ehrlich gesagt noch nie gefühlt, und seither interessiert mich, ob so ein Phänomen "offiziell" existiert. Der das erwähnte, hat es mit einer "anderen Art der Verdrahtung" im präfrontalen Kortex in Verbindung gebracht, ähnlich wie es oft über Autismus gesagt wird. Ich habe daraufhin im Netz gesucht, konnte aber speziell dazu bisher nichts Zufriedenstellendes finden. Mittlerweile bin ich verunsichert, ob ich nicht nur einem Phantom hinterher jage. Wenn also jemand etwas dazu weiß und vielleicht einen Link oder eine Quelle dazu hat, würde ich mich sehr freuen.

    Ich versuche es mal zu beschreiben. Ich habe keine Idee davon, wie viele hier das vielleicht auch in dieser Form kennen. Falls es etwas völlig Banales ist, bitte ich, mir meine Ahnungslosigkeit nachzusehen ;)

    Und zwar fallen mir zeitlebens schon die Kontakte am schwersten, die sich auf der persönlichen, privaten, eben informellen Ebene abspielen. Für mich stellt es sich so dar, dass ich auf dieser Ebene mit den allermeisten Menschen einfach nicht viel anfangen kann und kaum einen Plan habe, was ich mit ihnen machen oder reden soll. Etwas machen geht noch einigermaßen, das Reden finde ich noch schwieriger und daher sind mir Aktivitäten am liebsten, wo man etwas zusammen macht, wobei man nicht viel reden muss.

    Dabei habe ich an sich nichts gegen andere Menschen. Ich sehe die positiven Seiten an ihnen, sie können mir sympathisch sein, ich kann sie mögen und schätzen. Nur was ich in einem privaten Rahmen mit ihnen machen soll, weiß ich trotzdem nicht so recht. Mir fehlt dazu irgendwie das soziale Vorstellungsvermögen und ich bin immer wieder überrascht, wie vielschichtig und vielgestaltig Beziehungen zwischen anderen Menschen verlaufen, was auf diesem Gebiet sozusagen alles möglich ist. Mir selber fällt dazu nur sehr wenig ein. Das, was ich bei anderen beobachte, kann ich vielleicht noch rein äußerlich nachahmen, aber auf die Ebene, wo es sich einfach natürlich von innen heraus entwickelt und wächst, komme ich nur sehr selten und nur unter bestimmten Bedingungen.

    Bei Kontakten, die in einem formalen Rahmen stattfinden, stelle ich mich dagegen nicht ganz dämlich an und kann innerhalb gewisser Grenzen alltagstauglich interagieren. Ein Verhandlungsgenie oder Stratege werde ich bestimmt niemals sein, aber für den Alltag genügt es vollauf. Einkaufen, Behördengänge, Arztbesuche etc. sind kein Problem. Ich kann auch in Berufen mit Kundenkontakt arbeiten - das würden die Arbeitgeber wohl nicht jahrelang zulassen, wenn meine Interaktionen in geschäftsschädigendem Ausmaß inkompetent wären. Kurz, in einem formalen Rahmen kann ich die verlangte Rolle einnehmen und in dieser Rolle einigermaßen sozial kompetent interagieren.

    Ein Stück weit kann ich das Rollenkonzept auch auf die private Ebene übertragen, eben wenn man etwas zusammen macht, wobei ich eine Art Rolle einnehmen kann. Z.B. ein Gesellschaftsspiel, Teilnahme an einem Kurs etc. Die Ratlosigkeit setzt bei mir ein, sobald das Spiel oder der Kurs zu Ende ist und das formlose gesellige Beisammensein beginnt. Ab da werde ich oft schlagartig sehr still, weil ich einfach keine Ahnung habe, was ich machen oder sagen soll. So ganz ohne eine Rolle und rein privat.

    Für mich fühlt es sich in erster Linie wie eine Unfähigkeit an und nicht wie ein Unwille, weil ich es auch dann nicht kann, wenn ich eigentlich will. Die empfundene Unfähigkeit führt aber natürlich schon zu der Konsequenz, dass ich private Kontakte eher meide als suche.

    Da ich die Frage als Interessierte stelle, hier noch ganz kurz etwas zum Hintergrund. Ich wurde mit Anfang 20 als schizoid diagnostiziert, habe auch sicherlich Anteile. War und bin mir trotzdem nicht sicher, ob das, was ich habe, vielleicht nicht doch etwas anderes ist. Ich scheine für SPS ein vergleichsweise recht wohlwollendes Menschenbild zu haben. AS habe ich allerdings auch nicht, wurde ausgeschlossen und ich bin jetzt Mitte 40. Die beschriebenen Schwierigkeiten habe ich, seit ich mich erinnern kann.

    Gruß Myri

  • Hört sich irgendwie nach Schwierigkeiten bei der sozialen Interaktion an - und damit einem der zwei Kernsymptome von AS. Könnte es sein, dass Du damals die AS-Diagnose deshalb nicht bekommen hast, weil das zweite Kernsymptom, die repetitiven stereotypen Verhaltensmuster, fehlen?

  • @HCS
    So weit ich weiß, hat AS drei Kernsymptome: Auffälligkeiten in der sozialen Interaktion, Auffälligkeiten in der Kommunikation und repetitive/stereotype Verhaltensmuster. Allerdings gebe ich zu, dass es mir oft schwer fällt, die ersten beiden Kernsymptome klar voneinander abzugrenzen.

  • Und zwar fallen mir zeitlebens schon die Kontakte am schwersten, die sich auf der persönlichen, privaten, eben informellen Ebene abspielen. Für mich stellt es sich so dar, dass ich auf dieser Ebene mit den allermeisten Menschen einfach nicht viel anfangen kann und kaum einen Plan habe, was ich mit ihnen machen oder reden soll. Etwas machen geht noch einigermaßen, das Reden finde ich noch schwieriger und daher sind mir Aktivitäten am liebsten, wo man etwas zusammen macht, wobei man nicht viel reden muss.

    Also ich mag viele Menschen. Finde sie interessant, faszinierend, bewundere Kreativität, beneide sie um Eigenschaften (im Sinne von "hätte / könnte ich auch gerne", nicht dass ich anderen etwas nicht gönne). Erfreue mich an Vielfältigkeit.

    Aber um mit Menschen in Kontakt zu kommen oder auch zu bleiben benötige ich fast immer irgendeine Art von Sachbezug. Tiefgründige Gespräche über Psychologie, Philosophie, (Sozial-)-Verhalten, andere Weltanschauungen etc. - vermutlich einfach, weil man dadurch viel lernt und ich immer lernen möchte (eine Art Spezialinteresse). Dann rede ich auch gerne und angeregt. Und löchere meinen Gesprächspartner mit tausend Fragen. :m(:

    Wenn ich aber keinerlei Sachbezug habe... es zu einer Art "sozialem Geplänkel" wird... dann wird es schwer und zäh. Ich bin nicht sicher ob man das dann so klar als "informell" einordnen. Auf jeden Fall bin ich dann in einer komplett reaktiven Rolle und wenn von der anderen Seite dann kein Impuls kommt bin ich fürchterlich hilflos oder verliere das Interesse.

    Da würde ich bei mir auch von Unfähigkeit und nicht von Unwillen sprechen.

    In einem formellen Rahmen mit "klaren" Regeln, mit für mich konkludentem Handeln, kann ich halbwegs gut interagieren, aber auch da habe ich gewisse Defizite.

    Ob das jetzt hilfreich ist vermag ich nicht zu sagen, nach meinem Verständnis sieht es bei mir also zumindest ähnlich aus.

    ~ Einmal entsandt, fliegt das Wort unwiderruflich dahin ~
    Quintus Horatius Flaccus

  • Gerade habe ich noch gefunden, dass es im DSM-5 und zukünftig im ICD-11 für Fälle, wo die soziale Interaktion gestört ist, aber keine repetitiven stereotypen Verhaltensweisen vorliegen, eine neue Diagnose gibt: soziale (pragmatische) Kommunikationsstörung.

  • Könnte es sein, dass Du damals die AS-Diagnose deshalb nicht bekommen hast, weil das zweite Kernsymptom, die repetitiven stereotypen Verhaltensmuster, fehlen?


    Ich habe Routinen im Sinne von festgelegten Abläufen und mache gerne Dinge immer wieder auf dieselbe Art. Stimming oder so mache ich nicht, oder wenn dann nur in geringem Ausmaß und eher unauffällig. Ich habe da so eine Art, an Dingen zu knibbeln oder den Daumen gegen die anderen Finger kreisen zu lassen. Also ziemlich subtil.

    Die Routinen dränge ich auch anderen nicht auf, die mache ich halt für mich. Ich erwarte nicht, dass andere meine Abläufe auch befolgen. Zum Teil wäre es mir auch peinlich, so etwas als Forderung zu stellen.

    Edit: ich hatte bei der Diagnostik Mühe, mein Erleben in diesen Fragebögen wiederzufinden und zum freien Schildern kam ich kaum. Vielleicht hat es auch damit etwas zu tun.

    Ich bin mir ziemlich sicher, dass ich das hier im Forum irgendwo schon mal gelesen habe. Finde ich sehr interessant.

    die SuFu werd ich dann auch mal nutzen :nod:

    Einmal editiert, zuletzt von Myri (18. Januar 2020 um 15:54)

  • Vielleicht ist (auch) das Banal, was ich schreibe, aber ich finde das Verhalten, was du als "Unfähigkeit zu informeller Interaktion" beschreibst logisch und kenne es so auch von mir.
    Logisch meine ich, wenn man es vor dem Hintergrund der Defizite betrachtet, die bei Autismus auftreten.
    Im formalen Rahmen kannst du dich quasi an deiner Rolle entlanghangeln, das hat vielleicht etwas mit Übung zu tun oder Lernen, du weißt, was von dir erwartet wirst und verhältst dich entsprechend, brauchst die Menschen in deiner Umgebung dabei aber nicht wirklich verstehen, weil du einfach in deiner Rolle richtig interaagieren kannst.
    Im informellen Rahmen musst du die Menschen um dich herum verstehen, Mimik, Gestik richtig deuten, "zwischen den Zeilen lesen", selber wirst du auch stärker von deinem Gegenüber interpretiert, was Mimik, Gestik ... angeht und wenn da Defizite vorhanden sind, funktioniert die Interaktion in beiden Richtungen nicht oder nureingeschränkt oder es kommt zu (unangenehmen) Missverständnissen.
    Das daraus resultierende Rückzugerhalten kann ich nachvollziehen, weil ein "Scheitern im informellen Rahmen" ein Misserfolg darstellt, den man nicht immer wieder erleben möchte.

    diagn.

  • spezifisches Phänomen der Unfähigkeit, mit anderen Menschen informell zu interagieren?

    Besser könnte man meine Schwierigkeiten nicht beschreiben. :d

    Erfahrungsgemäß haben aber viele hier solche Schwierigkeiten. Hat nen Grund, warum auf Forentreffen so gerne gespielt wird. Da ist viel "vorgegeben", das ist irgendwie "formalisierter".
    Oder guck dir mal die Spielwiese hier im Forum an - das ist letztlich auch nichts anderes: Für informelle Gespräche sind wir dort alle zu blöd, nein, es muss immer in Threads mit Titeln wie "Was denkst du gerade?", "Was tust du gerade?", "Was hast du gerade getan?" etc. stattfinden. :m(: :d

    Im echten Leben ist es bei mir ganz genauso. Kontakte funktionieren eigentlich nur in einem festen Rahmen, typischerweise über mein Hobby.
    "Informelle Kontakte", so was kriege ich nur ganz, ganz selten hin - außerhalb dieses Forums praktisch nie. :m(:

    SPS habe ich bei mir auch schon häufiger überlegt. Dagegen sprechen bei mir ebenfalls das "wohlwollende Menschenbild", der Spaß am Rumblödeln (mit den richtigen Leuten), die Routinen / Stereotypien und die Tatsache, dass ich schon immer so war. :d

    P.S.: "Sozial pragmatische Kommunikationsstörung" hatte @Lefty, glaube ich, mal als Diagnose.

    "He that can take rest is greater than he that can take cities." ~ Benjamin Franklin

    Ich hab mehr Spielwiesenbeiträge als du!

  • @shnoing Danke für den Buchtipp. :thumbup:

    Nach dem Lesen von Rezensionen glaube ich, ich lebe tatsächlich einfach nur im falschen Land. :lol:

    "He that can take rest is greater than he that can take cities." ~ Benjamin Franklin

    Ich hab mehr Spielwiesenbeiträge als du!

  • Locker sein. Wer nicht locker sein kann, kann auch nicht informell agieren.

    I could work hard to be normal, but I prefer to hold myself a higher standard. Ego lex sum.

  • Gerade habe ich noch gefunden, dass es im DSM-5 und zukünftig im ICD-11 für Fälle, wo die soziale Interaktion gestört ist, aber keine repetitiven stereotypen Verhaltensweisen vorliegen, eine neue Diagnose gibt: soziale (pragmatische) Kommunikationsstörung.

    Bist du sicher, dass das nun in der ICD 11 auch wirklich so drinnen ist? Für den DSM 5 hast du recht, da ist dies nun eine Differentialdiagnose zu ASS, aber ich glaube, für die ICD 11 hat man das sehr kontrovers diskutiert und hat das letztendlich so nicht übernommen. Da ist die sozial pragmatische Sprachstörung bei den Sprachstörungen verblieben. Oder hast du da einen link für mich? (in der Fragestellung ist keinerlei Kritik enthalten, aber diese Frage berührt ein Thema, dass mich sehr interessieren und beschäftigt und da will ich unbedingt wissen, was nun richtig ist). Danke!

  • Ich finde das albern. Diese repetiven Verhaltensmuster sind doch im Grunde nur eine Verhaltensstrategie / Kompensationsstrategie zur Stressregulierung. Also wieso sollte man eine Diagnose davon abhängig machen, wie jemand mit seinen Problemen umgeht? Die Probleme selber sollten doch ausschlaggebend sein!

    I could work hard to be normal, but I prefer to hold myself a higher standard. Ego lex sum.

  • Oder hast du da einen link für mich?

    Wie blöd von mir - den habe ich auf die schnelle vergessen zu setzen, und jetzt finde ich ihn nicht wieder. Kann aber gut sein, dass Du recht hast, ich hatte nicht auf das Datum des Artikels geschaut.

    Ich finde es im Übrigen einigermaßen erschreckend, dass jemand wie Du, die mir noch nie durch irgendwie "angriffige" Beiträge aufgefallen ist, mittlerweile die Notwendigkeit sieht, sicherheitshalber darauf hinzuweisen, dass eine Formulierung nicht als Kritik gemeint ist. Aber ich kann Dich beruhigen: selbst wenn ich Deine Formulierung irgendwie als möglicherweise kritisch und obendrein diese mögliche Kritik als unangemessen empfunden hätte, hätte ich das maximal auf "autistische Kommunikation" gebucht. An der Fähigkeit zu diesem Maß an (auch Selbst-)Reflexion fehlt es in letzter Zeit leider einigen Usern.

    Einmal editiert, zuletzt von HCS (18. Januar 2020 um 18:35)

  • Diese repetiven Verhaltensmuster sind doch im Grunde nur eine Verhaltensstrategie / Kompensationsstrategie zur Stressregulierung. Also wieso sollte man eine Diagnose davon abhängig machen, wie jemand mit seinen Problemen umgeht? Die Probleme selber sollten doch ausschlaggebend sein!

    Aber wenn die Verhaltensstrategie nicht vorliegt, könnte es auch sein, dass das zugrunde liegende Problem nicht vorhanden ist.
    Das zugrunde liegende Problem ist die Reizwahrnehmung, die Verhaltensstrategie sind die repetitiven Verhaltensmuster. Normalerweise als direkte Folge. Fehlt die Folge, fehlt vielleicht auch die Ursache.

    Historisch gesehen waren die schrecklichsten Dinge wie Krieg, Genozid oder Sklaverei nicht das Ergebnis von Ungehorsam, sondern von Gehorsam.
    (Howard Zinn)

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