Ich lese aktuell ein Buch mit dem Titel "Ungewissheitsintoleranz und ihre psychischen Folgen". Eventuell ist das Buch auch für andere User interessant. In dem Buch werden auch Autismus-Spektrum-Störungen angesprochen.
Der Autor thematisiert auch die gesellschaftlich veränderten Anforderungen innerhalb der letzten 30 Jahre und wie diese mit dem Thema Ungewissheitsintoleranz in Zusammenhang stehen könnten. So wird gesellschaftlich immer mehr eine Ungewissheitstoleranz gefordert (Stichwort prekäre Beschäftigungsverhältnisse, Rückbau Wohlfahrtsstaat ,Multioptionsgesellschaft), die aber bestimmte Personengruppen nicht erbringen könnten. Dies könnte meiner Meinung nach z. B. auch dazu beigetragen haben, dass Autisten immer stärkere Probleme im Beruf und anderen Lebensbereichen bekommen und klinisch auffällig werden.
Autismus-Spektrum-Störungen werden in Zusammenhang mit einer hohen Ungewissheitsinteoleranz gebracht.
Ein Modell versucht diese typischen Symtpome der ASS durch eine geringe Ungewissheitstoleranz der Betroffenen verständlich zu machen. [...] Die eingeschränkten repetitiven Verhaltensmuster bei Autisten werden hier als Bemühungen angesehen, mit denen Betroffene (...) versuchen, ihr Leben wieder so vorhersehbar wie möglich zu gestalten - es stellt ihr zentrales Vergewisserungsverhalten dar.
Besonders interessant und hochspannend fand ich dieses Zitat im Buch
according to this view, RRB (Anm.: Festhalten an Routinen etc.) may be an epiphenomenon, a consequence of other cognitive processes, rather than a core feature of neurodevelopmental ASD phenotype itself.
Man kann davon nun halten was man will (Diskussionen zur Entstehung von Autismus-Spektrum-Störungen werden hier im Forum ja recht kontrovers an verschiedenen Stellen geführt und ich habe dazu eine Meinung, die mit der verbreiteten Ansicht nicht konform geht).
Aber durch die Beschäftigung mit dem Buch (ich bin noch dabei, es zu lesen) ist mir klar geworden, dass ich in dem Bereich ganz erhebliche (und diese Formulierung ist noch weit untertrieben) Probleme habe. Manche Aussagen in diesem Buch haben mir wirklich die Augen geöffnet. Es werden z. B. kognitive Grundüberzeugungen von Menschen vorgestellt, die eine hohe Ungewissheitsintoleranz haben. Die lauten dann so wie "Gewissheit ist absolut notwendig" oder "Ungewissheit ist gefährlich", "Ungewissheit macht mich handlungsunfähig", "Ungewissheit ist unfair". Das Ganze wird dann im Text hinterfragt. Ich fühlte mich ertappt. Denn auch ich bin im Prinzip leider überzeugt davon, dass Gewissheit absolut erforderlich sei. Ungewissheit lähmt mich und führt dazu, dass ich immer mehr Informationen sichte, aber doch zu keiner Entscheidung komme. Der Autor sagt ganz klar sowas wie, dass es nicht nur eine richtige Lösung oder Entscheidung gibt und Gewissheit eigentlich nicht zu erlangen ist. Das hat mir zu denken gegeben. Auch wenn ich es vorher schon häufiger gehört habe, aber nun leuchtet es mir irgendwie ein, während es vorher nur ein dahergesagter Spruch für mich war. Denn bisher bin ich trotz anderslautender Informationen dennoch so vorgegangen, dass ich nach dieser einzig richtigen Lösung suchte und auch eine sehr hohe Gewissheit anstrebte. Nun wird mir klar, dass ich vielleicht weniger leiden würde und weniger Probleme hätte, wenn ich mein Glaubenssystem 'einfach' so umstelle, dass ich nun 'weiß', dass es das gar nicht gibt, worauf ich mein ganzes Leben aufgebaut hatte.
Spoiler anzeigen
Ich habe beispielsweise die Grundüberzeugung "alle Menschen müssen gerecht sein" und dachte, dass dies so auch korrekt ist, denn irgendwann programmierte ich (oder andere?) mir mal ein, dass Gerechtigkeit ein wichtiges Gut sei. Im Buch wird sehr eindrücklich ein Beispiel gebracht, wie sich eine Mitarbeiterin über das Verhalten ihres Chefs aufregt, der die Mitarbeiterin übergeht und in sehr ungerechter Weise eine andere Mitarbeiterin bevorteilt. Da die Mitarbeiterin in sich einprogrammiert hat, dass alle Menschen gerecht sein müssen, regt sie sich unheimlich über das Verhalten des Chefs auf, da dieses ja gegen den Grundsatz verstößt. Wenn man aber erkennt, dass der Grundsatz nicht so sinnvoll ist, kann man den Grundsatz hinterfragen und leidet weit weniger.
Es ist eigentlich beschämend, dass ich so etwas Einfaches bisher nicht verstanden habe bzw. es mit dem Kopf verstanden habe, aber trotzdem nicht umsetzen könnte. Warum auch immer habe ich es aber kapiert, nachdem ich angefangen habe, in diesem Buch zu lesen. Die Beispiele sind wirklich beeindruckend (auch wenn sie total simpel klingen).
Es könnte also tatsächlich darum gehen, fehlerhafte Grundsätze neu zu programmieren. Vielleicht hängen Autisten zu sehr an diesen Grundsätzen, weil sie auch solche (elterlichen?) Anweisungen zu restriktiv bzw. wortwörtlich in sich aufnahmen? Dann könnte man jetzt umlernen (zumindest bei hochfunktionellen Autisten könnte es ein Versuch wert sein) und verstehen, dass diese Grundüberzeugungen damals fehlerhaft von einem selbst verstanden wurden und abzumildern sind.
Ich möchte mich auf jeden Fall weiter mit dem Thema beschäftigen. Es werden auch Theorien aufgestellt, wieso es zu dieser hohen Ungewissheitsintoleranz bei manchen Menschen kommt. Auch das ist hochspannend. Das Thema wurde wohl in den 60er und 80er Jahren mal wissenschaftlich gestreift, aber führte lange ein Schattendasein. Ich glaube, dass das Thema unbedingt in den Fokus gerückt werden sollte, weil es wohl keine psychische Erkrankung / Behinderung gäbe, bei der die Betroffenen nicht eine sehr hohe Ungewissheitsintoleranz besäßen. Gerade bei den aktuellen gesellschaftlichen Umbrüchen wird es wohl eine hohe Relevanz erlangen, glaube ich.
Vielleicht hilft es, durch die Beschäftigung mit dem Thema den Leidensdruck auch bei Autisten herabzusetzen? Falls jemand das Buch auch liest, bin ich an einem Austausch interessiert, wobei es mir etwas schwer fällt, die vielen gedanklichen Anstöße sortiert aufzulisten. Deshalb wollte ich erstmal einfach nur auf dieses Forschungsgebiet aufmerksam machen und hoffe, dass das Thema dadurch verbreitet wird und vielleicht anderen Betroffenen hilft.