Kaum jemandem nah sein können

  • @Happy to be Ich finde die Metapher mit der vollgemüllten Bude wunderbar und hilfreich.

    Ich würde dir grundsätzlich glaub ich auch bei allem zustimmen, nur: Zum Aufräumen müssen auch die entsprechenden Ressourcen und Kompetenzen vorhanden sein. Wenn ich weder Putzmittel noch Geld habe, mir diese zu besorgen, oder wenn ich nicht weiß wie man mit den Putzmitteln umgeht und keiner da ist, der einem das beibringt, dann sitzt man fest.

    Und ich denke dass gerade Autisten große Schwierigkeiten haben, an adäquate und bedürfnisgerechte Werkzeuge (im Sinne von Ressourcen und Kompetenzen) heranzukommen bzw sich diese zu erarbeiten, da sowohl das Angebot an "Werkzeugvermittlung" (Therapien, Bildung etc.) als auch die Lebensumwelt im allgemeinen sehr von neurotypischen Bedürfnissen geprägt und dominiert ist.

    Und dann ist Jammern und Selbstmitleid die einzige Bewältigungsstrategie, die übrig bleibt. Und dann kann es sogar ein Zeichen von Intelligenz sein, sich verbittert zurückzuziehen und zu versuchen, den Status Quo zu akzeptieren, in dem gleichzeitigen Wissen darüber, dass sich immer mehr Müll ansammeln wird, aber man nur sehr begrenzte Ressourcen hat, diesen zu entsorgen. Vor allem ihn regelmäßig zu entsorgen.

  • Ich würde generell zwischen äußerer und innerer Bindung unterscheiden. Wenn jemand verheiratet bzw. gebunden ist, würde ich nicht automatisch davon ausgehen, dass Bindungsfähigkeit besteht.
    Mich würde es aber auch interessieren, ob Bindungsunfähigkeit bedeutet, dass man gar keine Bindung eingehen kann (wie auch immer das in der Praxis aussieht) oder ob das auch eine Art Spektrum ist und falls ja, von welchen Faktoren es abhängen könnte, dass man zu bestimmten Menschen eine Bindung eingehen kann, zu anderen nicht.

    Ich kann nur für mich sprechen, aber ich sträube mich z. B. geradezu dagegen, wenn mir jemand zu 'nahe' (emotional zu aufdringlich) kommt und bin dann sofort innerlich wie äußerlich nicht greifbar. Bei jemanden, der mir den Raum lässt, auf die Person von mir aus zuzugehen, bin ich durchaus (bedingt) bindungsfähig. Es geht immer so lange gut, wie ich das Gefühl habe, nicht vereinnahmt zu werden bzw bis zu dem Punkt, wo das gegenseitige Nähe - Bedürfnis in etwa gleich ist. Will ich mehr Nähe und die andere Person nicht, werde ich auch sehr bindungsunfähig, weil ich dann oft ganz aus dem Kontakt gehe. Da spielen die traumatischen Erfahrungen wieder mit rein.
    Aber dass man aufdringliche Kontakte und vereinnahmende Nähe nicht mag (ab wann die so erlebt wird, ist vermutlich individuell), kann ich mir vorstellen, dass es auch bei reinen Autisten vorkommen könnte, dass man mit ganz wenigen Menschen bindungskompatibel ist, ansonsten aber recht bindungsunfähig wirkt bzw. ist.

  • Nur weil ich nicht mit jedem Menschen auf dieser Welt eine Bindung eingehen kann, bin ich ja nicht bindungsunfähig. Ich bin nur nicht mit jedem Menschen kompatibel. Ich denke, bindungsunfähig ist nur jemand der gar keine Bindungen eingehen kann. So verstehe ich das Wort "unfähig". Das autistische Problem soziale Beziehungen aufzubauen und zu erhalten, hat andere Gründe. Als Autistin bin ich nicht per se bindungsunfähig. Ich denke, das Problem entsteht eher durch untypische Verhaltensweisen. Ich kann z. B. die Zeichen sehr schlecht deuten, ob jemand Interesse an mir hat und komme mit dem Tempo nicht klar.

    .........................................................................................................................
    Glaub nicht alles, was du denkst.
    .........................................................................................................................

    Einmal editiert, zuletzt von kim (18. Dezember 2019 um 08:02)

  • Es muss ja nicht gleich eine Bindungsstörung vorliegen wenn "man" es nicht schafft tiefe(re) oder beständige Beziehungen zu anderen Menschen zu haben.

    Manchmal passt es eben nicht (man lernt sich halt nicht kurzer Zeit ganzheitlich kennen).
    Und es kann auch das Unbewusste eine Rolle spielen.
    Das faktische Verhalten, die einzelnen Worte oder Tätigkeiten die man gemeinsam "tut" reichen (für manche andere) nicht allein um "Nähe" zu empfinden.

    Wenn man mit sich nicht im reinen ist, oder durch Erfahrungen/ Trauma/ zu extreme Sehnsüchte/ Needyness o.ä. emotional aus der Spur ist, sendet man auch nicht gute Signale an den anderen.
    Bzw. glaube ich, das es dann schwer ist einen "echten" Menschen zu finden mit dem man so leben kann wie man es sich eigentlich wünscht.
    Das, glaube ich, stimmt definitiv. :nod:

    Vielleicht ist es das "autistische" Problem diese "Dinge" nicht gut erkennen zu können - sie sollten/ werden ausgesprochen - was andere vielleicht dann überfrachtet, oder es sind diese "hellsichtigen" Eigenschaften die die meisten Menschen scheinbar besitzen, wegen derer sie spüren das "man" was anderes ausstrahlt als man fühlt da "man" nun mal autistisch ist, oder so. :roll: Genau kann ich das auch nicht zuordnen.

    In --> diesem Video erklärt der Autor das (sehr sympathisch :roll: und) einigermaßen gut wie ich finde (das Thema kann man ja auch übertragen auf Freundschaften).

    *zu viele Menschen verwechseln Glück mit Spaß*

  • Den Schmerz darüber bekomme ich nicht weg, eine chronische Depression werde ich nicht los. Ich habe zweimal eine Therapie gemacht, das war aber vor meiner AS-Vermutung, und es kam wenig dabei herum. Eigentlich suche ich vor allem nach Wegen, mich annehmen zu können, auch ohne Zuspruch von außen. Ich bin ein ruhiges, unspektakulär und bürgerlich vor mich hinlebendes Mitglied der Gesellschaft, bloß existiere ich gefühlt auf einer eigenen Umlaufbahn. Ich will gar nicht mal sagen, auf einem fremden Planeten, wie es immer so schön heißt.


    Diese Traurigkeit. Die geht einfach nicht weg

    Das kann ich gut verstehen, denn es geht mir ähnlich. Wobei ich durch meine Familie kontaktmäßig im Grunde ziemlich ausgelastet bin, so dass für mich auch darüber hinaus neben dem Berufsalltag gar keine anderen Kontakte möglich wären, weil mich das massiv überfordern würde.

    Aber ich erlebe es seit Jahren mit meiner Partnerin, dass es sich für mich so anfühlt, dass ich immer diejenige bin, die die Beziehung mehr will als sie. Oft ist sie genervt und gestresst von mir wegen meiner Aspie Eigenschaften. Und ich fühle mich unzulänglich und dumm, weil ich es nicht schaffe, anders zu agieren, kommunizieren etc. Das ist für mich sehr schwierig, weil ich mir wünsche, dass gerade sie mich einfach so akzeptiert und liebt, wie ich bin.
    Wir haben gerade nach meiner Diagnose viel darüber gesprochen, es ging auch eine Zeit lang besser, aber gerade haben wir wieder eine ganz schwierige Phase. Sie mag einfach nicht besonders gerne über emotionale Dinge reden, und ich kann eben diese Dinge nur durch darüber reden und eine kognitive Herangehensweise versuchen zu verstehen. Da kollidieren unsere Bedürfnisse leider sehr. Wir waren auch schon bei einer Paar Beratung, aber es hat uns nicht weiter gebracht.

    Natürlich liegen auch da einige Wurzeln in der Kindheit, da meine Mutter mit mir und meinen Eigenheiten überfordert war, und ich mich auch von ihr nie so ganz akzeptiert gefühlt habe. Daran habe ich schon mal in einer Therapie gearbeitet und tue es zur Zeit wieder. Es geht mir darum diese Selbstliebe oder doch zumindest Selbstakzeptanz soweit zu erarbeiten, dass ich da unabhängiger werde von den Rückmeldungen anderer. Ich finde es aber gerade wenn man Aspie ist und häufiger mal aneckt oder als unzulänglich im sozialen Kontakt empfunden wird, schon etwas erschwert. Denn gerade wenn man ein etwas fragiles Selbstwertgefühl hat, ist es so anstrengend wenn die nicht so erfreulichen Rückmeldungen die sozialen Erfolgserlebnisse bei weitem überwiegen. :(

    Immer wenn mir jemand sagt ich wäre nicht gesellschaftsfähig, werfe ich einen Blick auf die Gesellschaft und bin sehr erleichtert...... :d

  • Vielen Dank an alle, die mir so ausführlich geantwortet haben. Da sind ein paar gute Denkanstöße dabei. Es ging mir auch gar nicht darum zu jammern. Das Problem ist, dass ich einen Großteil meines Lebens als Pseudo-NT gelebt habe, und sozial immer gegen die gleichen Mauern gerannt bin, von Kindheit und Jugend an, und nie wusste, warum. Ja, vermutlich besteht so etwas wie eine beeinträchtigte Bindungsfähigkeit, aber es ist "mehr" - und gleichzeitig anders. Wie sehr ich mich immer schon (vor allem im inneren Erleben) offenbar von anderen unterschieden habe, wird mir so langsam klar.

    Ich vermute, es ergeht mir wie vielen, denen spät im Leben der Aspie-Verdacht kommt. Das eigene Ich muss erst unter all den "Eigentlich-bin-ich-doch-normal"-Masken zum Vorschein kommen, denn das Fake-Ich ist gescheitert im nahen, engen, echten Kontakt mit den meisten Menschen. Ein sehr schmerzhafter Prozess. Ich habe das Gefühl, ich muss mich zunächst mal von der sozialen Welt außerhalb der Familie zurückziehen, um in mir aufzuräumen, wie Happy-to-Be es so passend formulierte.

    Vielleicht bin ich dann ganz neu in der Lage, zu einigen wenigen passenden Menschen schöne Kontakte aufzubauen.

    People are strange, when you're a stranger.

  • Zitat von Enigma

    denn das Fake-Ich ist gescheitert im nahen, engen, echten Kontakt mit den meisten Menschen.

    "Es gibt kein richtiges Leben im Falschen" - weiser Spruch, sber, es gibt auch kein Faken-Können im Richtigen.

    Kleines Problem bei letzterem, du beginnst plötzlich zu erkennen, wie viele Fakes eigentlich rumrennen.
    Sowohl fakend um Falschen, als auch fakend sich in richtige einschleichen wollend, um die dann zu Fakes zu erklären.

    Der Unterschied - Fakes wollen nie richtig stellen und sind nie bereit, mit dir gemeinsam daran zu arbeiten, und selbst was echtes aus voller Überzeugung zu tun, damit was gemeinsam für beide Gutes entsteht.
    Wenn du klären willst und es wird "Weiß nicht, entscheide du, ja, ok, passt, meinetwegen, sei du selbst, pass dich doch nicht an usw" gesagt, du aber das Gefühl hast, dich Rückversicherung zu müssen bzw. richtig stellen zu müssen, und dafür dann auch dafür Vorwürfe kriegst - Fakealarm.
    Früher oder später wunderst du dich, was dir da in der Abrechnung präsentiert wird als "Du Fake".

  • Ich finde das ein bisl krass.
    Alle spielen Rollen.
    Manche wissen nicht ,welche davon ihnen ...also dem inneren Ich wirklich entsprechen und welche doch nicht.
    Das merken wir doch auch hier im Forum. ..dass man sich anpasste. ..später merkte, was daran evtl nicht stimmt...
    So geht es aspies wie nts wie....
    Da finde ich, von fakes zu sprechen, etwas krass.

  • „Maskieren“ trifft es eher, ist ja ein bekanntes Phänomen bei AS-Menschen, besonders vor dem ersten Verdacht.

    Dieser soziale Eiertanz, damit bloß nicht auffällt, wie komisch man in Wahrheit ist...

    Sicher kennt das jeder, auch NTs, aber die Aspie-Experience ist schon noch etwas spezieller.

    People are strange, when you're a stranger.

  • [...] Vielleicht bin ich dann ganz neu in der Lage, zu einigen wenigen passenden Menschen schöne Kontakte aufzubauen.

    Mehr als "ein paar wenige schöne Kontakte zu einigen wenigen passenden Menschen" kann man, denke ich, auch sowieso nicht erwarten... geht da "NTs" doch auch nicht anders. Die haben nur oft zusätzlich noch jede Menge "loserer" Kontakte in unterschiedlichen "Oberflächlichkeitsgraden"... :roll:

    "He that can take rest is greater than he that can take cities." ~ Benjamin Franklin

    Ich hab mehr Spielwiesenbeiträge als du!

  • Mehr als "ein paar wenige schöne Kontakte zu einigen wenigen passenden Menschen" kann man, denke ich, auch sowieso nicht erwarten... geht da "NTs" doch auch nicht anders. Die haben nur oft zusätzlich noch jede Menge "loserer" Kontakte in unterschiedlichen "Oberflächlichkeitsgraden"... :roll:

    Ja also die meisten Menschen werden in ihrem Leben nur wenige "richtige" Freunde haben. Es ist ja oft so, dass da viele Leute im Leben kommen und gehen. Im Laufe der Jahre stellt sich heraus wer die wirklichen Freunde sind und bei mir sind es auch nur ein paar Leute, die es vor Jahren gab und die es jetzt immer noch gibt.

  • Es gibt ja Studien und Umfragen zu dem Thema. Ich habe jetzt gerade die Quelle nicht zur Hand, aber ich habe letztens gelesenes dass die Prozentzahl an Menschen die angeben sie hätten mindestens eine Person mit der sie persönliche Dinge besprechen könnten erschreckend gering ist.

    Una est catena quae nos alligatos tenet, amor vitae

  • Die meisten wollen Nähe spüren, aber sich nah sein, bedeutet ja auch, dass man genau sieht und - viel schlimmer - gesehen wird, mit allem und sich dann auch sich selbst nicht mehr schönreden kann.

    Wer sich sich selbst nicht mag bzw nicht ansehen will, wird erschrecken, wenn der andere das sieht bzw man dann selbst sieht und auch noch spürt, was man vor sich selbst verbirgt.

    Das Ersehnte wird zur Hölle. An der dann natürlich der andere "Schuld" ist, und "nur nicht passte" :m(: :d

  • Ich hatte das Thema "Freundschaften und Bekanntschaften" in meiner Therapie.

    Für mich macht dieser Thread den Eindruck, daß der Hintergrund / Kontext aus Sicht von NTs komplett fehlt.

    Meine Therapeutin hatte mir folgendes zu Denken gegeben:

    1. Freundschaften wollen regelmäßig von BEIDEN Seiten gehegt und gepflegt werden
    2. Ein Mensch kann daher nur 2 oder maximal 3 Freundschaften haben
    3. Der Rest ist Bekanntenkreis

    Zum Bekanntenkreis zählen (nach "Wichtigkeit" oder "Nähe" sortiert):

    sympatische Mitmenschen
    Arbeitskollegen
    Leute, die man von Vereinen sieht
    Nachtbarn
    Leute aus Internet-Foren
    Verkäufer(innen) und Dienstleister bei der Arbeit
    usw usw
    Leute, mit denen man nichts zu tun haben will

    Meinen Einwand, daß ich für einen Nachtbarn Pakete annehme, hat sie (aus Sicht einer NT) mit "nett, aber nicht wirklich nötig" kommentiert.

    Meine Überlegung ist daher, meine zwei Freundschaften weiterhin zu pflegen und alle anderen Bekanntschaften immer hintenan zu stellen. Das ist zwar nicht meine persönliche Einstellung, scheint aber wohl gesellschaftlich so gefordert zu sein.

    Freundliche Grüße

    infla


  • 1. Freundschaften wollen regelmäßig von BEIDEN Seiten gehegt und gepflegt werden
    2. Ein Mensch kann daher nur 2 oder maximal 3 Freundschaften haben

    Sie meinte "Freundinnen". Unter Männern ist das nicht so wichtig. :fun:

    Zumindest habe ich Freunde, mit denen ich jahrelang keinen Kontakt hatte, und wenn wir uns dann treffen ist alles wie früher. Und wir könnten uns jederzeit mitten in der Nacht anrufen. Kann man natürlich auch nur "Bekanntschaft" nennen, ich nenne es Freunde.

Jetzt mitmachen!

Sie haben noch kein Benutzerkonto auf unserer Seite? Registrieren Sie sich kostenlos und nehmen Sie an unserer Community teil!